Die Kunst des Lernens

Der menschliche Geist kennt im Wesentlichen zwei Arten der Aktivität. Die eine geschieht auf der Grundlage des Bekannten, die andere auf der Grundlage des Unbekannten.

Die Kunst des Lernens

Was bedeutet es zu lernen? Die meisten Menschen würden auf diese Frage wohl antworten: „Lernen ist die Aneignung von Wissen.“ Denn das scheint die Aufgabe zu sein, die Institutionen des Lernens in unsere Gesellschaft eingenommen haben: Schulen, Universitäten oder Akademien sind Institutionen, die Schülern und Studenten Wissen vermitteln. Dieses Wissen reicht von fachlichen Inhalten zu der Aneignung von Methoden und dem Training bestimmter Verhaltensweisen. Meistens dient der Prozess der Wissensvermittlung dabei einem bestimmten Ziel, das sich in Ansehen, Einfluss, Geld oder Karriere auszahlen soll. Wir möchten zu dieser Auffassung einen Gegenentwurf zeichnen und sagen: Lernen ist im Eigentlichen ein Prozess der Ausbildung geistiger Strukturen – im Menschen so wie in der gesamten Natur – und ist nur förderlich, wenn er frei von Absicht geschieht. Die Kunst des Lernens erschließt sich letztlich in der Öffnung des Geistes für die ungehinderte Entfaltung schöpferischer, geistiger Kräfte.

Eine fließende Kommunikation mit der Umwelt

Wenn wir kleine Kinder beobachten, wie sie ihren Alltag verbringen, so werden wir schnell feststellen, dass im Wesentlichen alles, was sie tun, darin besteht, auf spielerische Weise mit ihrer Umwelt in Beziehung zu treten und mit ihr auf verschiedenste Art zu kommunizieren. Sie fassen die Signale ihrer Umgebung auf und antworten auf diese Signale, sei es, indem sie lachen, schreien, einen Klotz auf den anderen stellen, irgendwo hinaufklettern oder sich auf den Boden legen. All diese Verhaltensweisen sind Arten einer fließenden Kommunikation mit der Umwelt, mit dem, was ist. Doch dieser äußerlich wahrnehmbare Akt ist nur ein Aspekt eines ganzheitlichen Prozesses. Denn das, was durch den Körper agiert und kommuniziert, ist der Geist des Kindes – und er kommuniziert mit dem Geist der Umwelt. Die natürliche Umwelt hat dabei eine unverrückbare natürliche Ordnung, die sich in ihrer offensichtlichsten Form als Naturgesetz darstellt. Jedoch auch das Wesen der Mitmenschen ist Teil dieser „Ordnung“ der Umwelt, die das Kind prägt; der Geist des Kindes erbaut sich an dieser Ordnung. Und dieser Prozess heißt „lernen“. Das kleine Kind agiert dabei vollkommen aus sich selbst heraus, ohne geplante Absichten und ohne äußere Zwänge, innerhalb des Rahmens, den die Eltern aufspannen. Die Wissensaneignung ist dabei sekundär, sie ist Teil des Prozesses des Lernens, aber erhält keine besondere Aufmerksamkeit. Belohnung und Bestrafung mit Hinblick auf ein Ziel haben keinen Platz. Was aber eigentlich geschieht, ist die kontinuierliche Ausbildung geistiger Strukturen im Kind, die Ausbildung einer Struktur und Ordnung im Geist, die durch Eindrücke entsteht, die sich diesem Kindesgeist aus dem, „was ist“, einprägen.

Wie ist es nun in der Natur? Der gesamte Prozess der Evolution kann als ein Prozess des Lernens aufgefasst werden. Es ist die fortwährende Verfeinerung geistiger Strukturen, die allem Ausdruck zu Grunde liegen und sich in dem Reich der Minerale, Pflanzen und Tiere in der Ausgliederung immer komplexerer Formen widerspiegeln. Die gesamte Erde kann dabei tatsächlich als ein Körper angesehen werden, der auf immer vollkommenere Art versucht, einer alles durchdringenden schöpferischen Kraft Ausdruck zu verleihen. So verstehen wir, dass Schöpfung nicht abgeschlossen ist, sondern sich fortwährend vollzieht.

Institutionen des Lernens

Wie ist es nun in den Schulen und Institutionen des Lernens? In den meisten Universitäten und Schulen lernen Studenten und Schüler nicht, indem sie einem inneren, unbestimmten Drang der Neugier oder einem spielerischen Ergründen folgen. Diese intrinsische Motivation hat in vielen Fällen kaum Platz. Sie lernen vielmehr zumeist, weil sie das angeeignete Wissen für den einen oder anderen Nutzen gebrauchen sollen oder wollen, um eine gewisse Sache in der Zukunft zu erreichen. Im Mittelpunkt steht also nicht der Akt des Lernens selbst, sondern das erwartete, zukünftige und selbst projizierte Ziel. Der Impuls kommt von den Inhalten, die dem Denken von außen aufgeprägt werden und dem darauf gerichteten Verlangen, und nicht aus einer wortlosen Spontanität des Fragens. Das gilt auf gleiche Weise für das Aneignen von Wissen für eine gesellschaftliche Karriere, und es gilt sogar auch für das oft besser verschleierte Ziel einer spirituellen Karriere. Oft zwingen sich Menschen dabei dazu, gewisse Informationen auswendig zu lernen, fremdgesteuerte Inhalte zu konsumieren oder gewisse Verhaltensweisen aufrecht zu halten. Das darin enthaltene „Sollen“ oder „Müssen“ ist stets ein Hinweis darauf, dass die grundlegende Atmosphäre und Geisteshaltung der vermeintlich Lernenden von fundamentaler Trägheit ist, die jede Aktivität zu einer Anstrengung und einer Form der Kontrolle werden lässt. Dies deutet darauf hin, dass sich der jeweilige Mensch dieser Trägheit nie in liebender Aufmerksamkeit zugewendet hat, um sie im spielerischen Lernen zu verstehen und zu durchdringen.

Der Prozess der Ausbildung geistiger Strukturen scheint bei vielen Erwachsenen oft fast zum Erliegen gekommen zu sein. Stattdessen werden die vorhandenen geistigen Strukturen aus Eigeninteresse mit weiterer Information aufgeladen. Dies ist, wenn man es genau betrachtet, ein selbstzerstörerischer Prozess, denn Stagnation bedeutet Tod. Die Abwesenheit des wahren Lernens ist Stagnation.

Offen für das Unbekannte

Ein fundamentaler Teil der Ausbildung neuer, geistiger Strukturen – des Lernens – ist Neuheit. Das heißt, dass Handeln im Lernen, trotz einer vielleicht augenscheinlichen Wiederholung im Äußeren, immer etwas Neues in sich trägt. Etwas, das nicht durch das Bekannte hervorgebracht wird, sondern das in einer gewissen Weise kreativ oder schöpferisch ist. In diesem Zusammenhang können wir erkennen, dass der menschliche Geist im Wesentlichen zwei Arten der Aktivität kennt. Die erste ist eine Aktivität aus dem Bekannten heraus. Sie umfasst das Analysieren, das Interpretieren, das Vergleichen, das Wiedererkennen, das Spekulieren, das Bewerten oder das Projizieren und Imaginieren. All diese Aktivitäten werden aus dem Fundus des Bekannten heraus getan. Die zweite Art der Aktivität beruht auf einer Offenheit für das Unbekannte – die manchmal auch als das Tun durch Nicht-tun bezeichnet wird. Zu dieser Offenheit gehören: sich wundern, fragen, still sein, ergründen, beobachten und die Wahrnehmung dessen, was ist, aus einem Geist heraus, der an keiner Schlussfolgerung oder Erinnerung festhält. Interessanterweise kann man diese zweite Form der Aktivität, wenn sie wahrhaftig ist, nicht beabsichtigen oder trainieren, sondern sie erschließt sich immer wieder spontan von innen heraus, wie es bei kleinen Kindern der Fall ist.

Man kann die Kunst des Lernens also als jene Kunst verstehen, die die Öffnung für das Schöpferische ermöglicht. Im Prozess dieses Lernens, dieses Erkennens, welche stets eine Berührung mit der Harmonie der Ganzheit ist, bilden sich im menschlichen Geist und Wesen kontinuierlich neue Strukturen aus. Es geht dabei nicht um die Information des Erkannten, sondern um die Ausbildung geistiger Strukturen durch wahrhaftiges Erkennen. Der formulierte Inhalt der Information des Erkannten ist immer nur ein vergänglicher Schatten des Erkennens und jegliche Wiederholung ist hierbei leblos. Die Ausbildung geistiger Struktur durch Erkenntnis hingegen ist Teil der Ewigkeit. Denn diese geistige Struktur entsteht nicht in einem getrennten Individuum, sondern in einem Teil der Ganzheit. Dieses Erkennen, das frei ist vom Bekannten und frei von Worten, ist unmittelbare Handlung. Sie negiert das Disharmonische und ermöglicht der Harmonie heiliger Schöpfung immer vollkommenere Ausdrucksmöglichkeiten. So gebiert Nicht-Tun wahrhaftige Handlung frei von der Absicht eines Handelnden.

Die Kunst des Lernens erschließt sich also nicht durch den Willen, der eine Absicht verfolgt, sondern dort, wo das Verfolgen von Absicht in seiner dumpf klingenden Art erkannt wird und daher spontan verworfen wird. Aus der Kunst des Lernens eröffnet sich eine Beziehung zur Ganzheit, deren fundamentales Wesen Liebe ist.

Nun wollen wir zum Schluss noch einmal zu der Frage zurückkehren: Was ist die Bewegung des Lernens? Ist es nicht so, dass Lernen da ist, wo das festhaltende Ich nicht ist? Doch wie kann da Verstehen stattfinden, wenn es keinen gibt, der erklärt? In urteilsloser Aufmerksamkeit erschließt sich vollumfängliche Beziehung mit der Ganzheit, die ihre eigene Ordnung und Harmonie hat. Und an dieser heiligen Ordnung erbaut sich das Geistige, erbaut sich alles Leben.

 

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Datum: April 29, 2020
Autor: K.S. (Germany)

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