Ein Riss im Himmel

Was könnte durch einen Riss im Himmel entstehen?

Ein Riss im Himmel

So beginnt der Mensch, sich der Freiheit des Kosmos bewusst zu werden. Er beginnt, sich als regelrechter Kosmopolit, als Weltbürger zu fühlen und in Harmonie mit diesen Kräften zu schwingen. Er kommt zur Erkenntnis einer unaussprechlichen Einheit, die alles umfasst und jede Angst ausschließt.

G.R.S. Mead 

Ich bin allein auf der breiten Promenade. Die anderen, die eben noch bei mir waren, sind zurückgeblieben. Ein dumpfes Grollen lässt den Beton erzittern und geht durch meinen Körper. Die Baumreihen am Rande des Boulevards scheinen sich zu nach außen zu biegen. Ich sehe, wie sich ein Panzer langsam nähert.

Ich bleibe stehen.

So geschah es 1989 in Peking, und das Bild davon ging um die Welt. Es ist etwas Urtümliches: die Konfrontation des Individuums mit einer äußeren Macht. Da ist die stählerne Kraft des Panzers, und da ist der schwache, verletzliche Mensch. Und doch kommt der Panzer zum Stehen, weil der Mann stehen geblieben ist.

Heute geht eine ansteckende Krankheit um die Welt und der Staat greift in hohem Maße in das Leben des Individuums ein. Da kommt mir dieses Bild wieder in den Sinn. In China war das Eingreifen in die Freiheit weitreichend und scheinbar unvermeidlich. In den westlichen Demokratien geht es unterschiedlich weit. Zum Druck der Regierung kommt der soziale Druck hinzu. Man muss sich den Vorschriften unterwerfen. In Belgien, meinem Heimatland, heißt das: „Bleiben Sie zu Hause!“ Von beiden Seiten steigt der Druck, eine Gesichtsmaske zu tragen und sich auf Pflichtimpfungen vorzubereiten.

Auch diese Krise produziert ihre Bilder. Es gab ein Foto von den bläulichen Gipfeln des Himalaya, wie sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder von den Nordindischen Inseln aus zu sehen waren. Und es gab den Film über Fische in klarem Wasser in den Kanälen von Venedig. Unsere Realität wird transparenter, sie kann deutlicher wahrgenommen werden, nun, da unsere Aktivitäten mit einem Schock zu einem gewissen Stillstand gekommen sind.

Könnte es auch der Schock des Neuen sein?

Eine große Unsicherheit breitet sich aus. Das wirtschaftliche Gefüge droht durch die verminderten Aktivitäten auseinandergerissen zu werden. Hinter jeder menschlichen Begegnung scheint der Tod zu lauern. Mein Vater und meine Mutter, beide schon älter, sitzen zu Hause und ich darf sie nicht besuchen. Werden die Krankenhäuser genügend Kapazität haben, um mich zu versorgen, wenn ich krank werde? Werde ich vielleicht sogar sterben? Wird mein Unternehmen überleben? Zahlreiche Fragen, und keine Antworten. Wir spüren und beobachten, und wir denken über die Veränderungen nach, aber wir haben keine Vorstellung davon, welcher Art sie letztlich sein werden. Viele Begegnungen verlagern sich ins Virtuelle, auch im religiösen Bereich.

Die größere Ruhe in der Atmosphäre, die verstärkte Transparenz – einige erleben dadurch wieder das Menschliche in ihren Mitmenschen und bringen es – aus sicherer Entfernung – zum Ausdruck. Begegnungen und Gespräche mit Fremden führen schnell zum Wesentlichen im Leben, zum Menschsein in der Gegenwart. Das berührt mein Herz und lässt einen Funken Hoffnung aufkeimen, und den Glauben, dass etwas Gutes entstehen könnte. Dass all die Menschen, die jetzt plötzlich wach werden, nicht wieder einschlafen. Denn jetzt wird uns doch vor Augen geführt, dass unsere Lebensweise absurd, gefährlich und dumm war. Wir können nicht länger ignorieren, dass die Erde uns einen Schlag versetzt hat und dass die Natur sich durch unseren vorübergehenden KO regenerieren kann.

Was ist das Menschliche in uns? Achten wir uns gegenseitig nur dann, wenn wir bedroht sind? Wird es uns möglich, das Leiden anderer so zu erleben, als wären wir selbst davon betroffen? Spüren wir die Freude eines gegenseitigen Erkennens und die Öffnung, die in diesen Tagen entstanden ist? Die Öffnung in meinem Bewusstsein, in unserem Bewusstsein? Sind wir froh und neugierig darauf, was durch den Riss im Himmel keimen und wachsen mag? Die Welt scheint auf dem Kopf zu stehen … denn normalerweise geschieht das Wachstum ja aus der Erde heraus.

Der umgedrehte Baum der Alchemisten mit den goldenen Äpfeln. Seine Zweige und Äste zeigen an, in welcher Richtung der nächste Schritt, mein nächster Schritt, getan werden kann. Der Schritt, den nur ich gehen kann, in Freiheit, im Durchströmtwerden von den Lebensenergien des alchemistischen Baumes. Ich bin verantwortlich für diesen Schritt, bin mitverantwortlich dafür, dass der Baum Früchte bringt. Ich bin für meine Menschlichkeit verantwortlich.

Und da ist die andere Möglichkeit: Sie besteht darin, dass wir unsere Lebensenergien den aufgeladenen Emotionen und Denkimpulsen opfern, die wie mit klebrigen Spinnenfäden den Riss im Himmel so schnell wie möglich wieder verschließen wollen. Dann sind wir noch nicht frei für unseren nächsten Schritt, dann vernebeln wir den Riss im Himmel unseres Bewusstseins wieder. Niemand außer mir selbst kann etwas dagegen tun, es liegt ganz in meiner Macht. Auch wenn andere Menschen sich für eine schnelle Verdunkelung und Verhärtung entscheiden: Meine Gedanken sind frei!

Schau genau hin. Siehst du die Öffnung, die dir gegeben ist? Schau hin, welche Möglichkeiten sich in dir und um dich herum auftun, und mach den ersten Schritt, in vollem Vertrauen. Denn es ist der Schritt, den das Leben dir zeigt, indem es die Krise geschaffen hat. Dir und vielen anderen. Du kannst den Beweggrund – das Motiv – Leben nennen, oder Universum, oder Gott, oder das Leben im kollektiven menschlichen Unbewussten. Oder, visuell: das Quadrat von Saturn – der alten Autorität – mit Uranus, dem Freiheitsimpuls. Der Name ist nicht wichtig. Es ist etwas Sinnvolles in Gang gesetzt worden. Man kann seine Bedeutung erkennen, kann sich in organischem Wachstum mit ihm mitbewegen. Man kann mit dem Leben wachsen, das durch den Riss im Himmel in unsere Welt hineinwächst, um Früchte zu bringen: goldene „Äpfel des Bewusstseins“.

Ein Panzer ist ein schweres Kampfgerät, angetrieben aus Angst vor dem Funken des Lebens und des Bewusstseins. Nehmen wir unsere Panzerung ab und stellen wir uns unter den freien Himmel. Wir sehen die Bäume und alles Lebendige um uns herum. Wir sind voller Zuversicht. Denn da ist ja der Riss im Himmel.

 

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Datum: August 2, 2020
Autor: Eric Op 't Eynde (Belgium)
Foto: Marion Pellikaan

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