Fluss und Emergenz des Wirklichen

Nach dem Philosophen Spinoza (1632-1677) gibt es zwei Seiten der Natur. Zum einen ist da der aktive, produktive Aspekt; ihn nannte Spinoza Natura naturans (die Natur in ihrem Werden). Zum Anderen gibt es das durch den aktiven Aspekt Erzeugte, die Natura naturata (die entstandene Natur, die manifeste objektive Welt). Diese Unterscheidung kann auch für die Erklärung der Wirklichkeit durch die moderne Physik von Bedeutung sein.

Fluss und Emergenz des Wirklichen

Die Paradoxien der Quantenphysik

In einem rein deterministischen Denken bestimmt die Festlegung des Zustands eines Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt alle späteren Zustände. Die moderne Wissenschaft hat diese Weltsicht in Frage gestellt. Die Quantenphysik sagt zwar den zukünftigen Quantenzustand aus dem gegenwärtigen Zustand voraus; sie gibt aber nur Wahrscheinlichkeiten für beobachtbare Ereignisse an. Nach der Quantenphysik basieren messbare Ereignisse auf Naturgesetzen, aber letztlich enthalten sie ein Spektrum von Möglichkeiten, aus denen bestimmte reale Tatsachen durch einen seltsamen Prozess, den man als „Kollaps der Wellenfunktion“ bezeichnet, hervorgehen. [1] Mit anderen Worten: Die Quantenmechanik postuliert „spezielle Korrelationen […] [die] aufgrund sehr allgemeiner, auf Realismus und lokaler Kausalität basierender Argumente eigentlich unmöglich sein sollten“. [2]

Wie jede Theorie kann die Quantenphysik als ein Modell angesehen werden. [3] Ein Modell ist eine idealisierte Darstellung eines Bereichs. Es schafft ein System „symbolischer Formen“, wie Ernst Cassirer (1923) es nannte, mit einem kognitiven und auch einem ästhetischen Wert.

Mit solchen Modellen versuchen Physiker, Phänomene zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen, zum Beispiel bei der Wechselwirkung von Licht und Materie. Ingenieure konstruieren auf der Grundlage der Quantentheorie nützliche Artefakte (z.B. Laser). Die Quantentheorie hat aber von Anfang an auch philosophische Reflexionen ausgelöst. Viele große Physiker, die Pioniere der Quantentheorie waren, veröffentlichten auch philosophische und mystische Schriften. [4] Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit waren sie auf eine Reihe verwirrender Paradoxien gestoßen [5] und es hatten sich Perspektiven eröffnet, die sie dazu inspirierten, über die Wissenschaft hinauszugehen.

Die Gründe für diese „philosophische Wende“ sind vielfältig. Ein Grund könnte sein, dass in der „traditionellen“ Interpretation der Quantenphysik die Theorie ein Modell bietet, in dem die Natur zwei Seiten hat: eine Überlagerung verschiedener Möglichkeiten auf der einen Seite und „kollabierte“ Zustände mit definierten gemessenen Ergebnissen auf der anderen. Tatsächlich ist eine ähnliche zweifache Perspektive in der Naturphilosophie wiederholt diskutiert worden.

Natura naturans und Natura naturata

Als Beispiel können wir Baruch de Spinoza (1632-1677) betrachten. In seiner Ethik (Teil I, Prop. 29, Scholium) führt er die Begriffe Natura naturans und Natura naturata ein. Steven Nadler schreibt:

[Nach Spinoza] gibt es zwei Seiten der Natur. Erstens gibt es den aktiven, produktiven Aspekt des Universums […]. Dies ist es, was Spinoza […] Natura naturans, „naturierende Natur“, nennt. […] Der andere Aspekt des Universums ist derjenige, der durch den aktiven Aspekt, als Natura naturata, „naturierte Natur“, erzeugt und erhalten wird. [6]

Unsere übliche Art der Verarbeitung von Erfahrungen – sei es in unserem täglichen Leben oder in empirisch-wissenschaftlichen Aktivitäten – begreift die Dinge in der Natur als Objekte. Wir schaffen mentale Konstrukte, die wir als definiert, abgegrenzt und unabhängig voneinander denken, und ordnen unsere Erfahrungen diesen Konstrukten zu. Unsere Vernunft erkennt und verbindet sie, theoretisiert über Ursache und Wirkung und beobachtet Korrelationen oder Muster. All dies ist nützlich und hat seinen praktischen und kognitiven Wert und seine Gültigkeit. Aber es konzentriert sich offensichtlich auf die Natura naturata, die Natur als eine gegebene äußere Struktur, eine Menge miteinander verbundener Objekte.

Und hier stehen wir vor der Frage: Was ist dann Natura naturans, die Natur in ihrem Werden? Und haben wir irgendeine Beziehung zu ihr, irgendeinen Zugang zu ihr? Hier sollten wir uns bewusst sein, dass Spinoza die Gleichung Deus sive Natura, „Gott oder die Natur“, formuliert (Ethik, Teil IV, Prop. 4, Demonstratio). Folgt man dieser Gleichung, dann ist die Frage nach der Natura naturans nichts weniger als die Frage nach der immanenten göttlichen Kraft in allem.

Die Ideen Spinozas wurden unter anderem von den postkantischen Idealisten aufgenommen. Spinoza sah in seiner Weltanschauung das Göttliche als eine immanente Kraft. Aus diesem Grund hielten ihn viele für einen Atheisten, und Traditionalisten lehnten seine Philosophie ab. Aber in gewisser Weise war es eben diese Sichtweise, die seinen Ansatz auch für die Idealisten attraktiv machte. Ein Beispiel für die Reflexion von Spinoza findet sich bei August Schlegel (1767-1845). Katia Hay schreibt:

Schlegel argumentiert, dass […] alles an einem fortwährenden Schöpfungsprozess teilhat, während aus empirischer Sicht die natürlichen Dinge so konzipiert werden, als seien sie tot, fixiert und unabhängig vom Ganzen. Das bedeutet, dass […] die Natur nicht in der gleichen Weise wahrnehmbar ist wie die weltlichen Gegenstände. […] Schlegel argumentierte, dass das Verständnis des wahren Wesens der Natur eher einer Ahnung oder einer ästhetischen Betrachtung gleicht, als einer wissenschaftlichen Erkenntnis. [7]

In dieser Perspektive sehen wir einen auffallenden Kontrast zur „objektiven“ Haltung gegenüber der Natur: Die Natura naturans wird als ein fortwährender Schöpfungsprozess, eine kontinuierliche Formung, eine Emergenz, ein Fluss der entstehenden Wirklichkeit charakterisiert. Natura naturans ist eine „poetische“ Bewegung, die aus der Potenzialität – um es im Sinne von Aristoteles zu formulieren – Wirklichkeit (Aktualität) erzeugt (Met. 3.6.5-6, 9.1-9).

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775-1854) sieht in seiner Naturphilosophie die Kant’sche Trennung zwischen „erscheinender Natur“ und „Natur an sich“ als Folge der Tatsache, dass die Natur in kognitiven Urteilen zu einem Objekt – im Gegensatz zum wissenden Subjekt – gemacht wird. Schelling betont die lebendigen dynamischen Kräfte in der Natur, einschließlich der Kräfte im Menschen. Die Natur besitzt eine hervorbringende Kraft, die sie zu ihrer Verwirklichung treibt. Im Menschen ist sie zunächst eine unbewusste und dunkle Kraft, die aber die Grundlage für seine Freiheit und Selbstverwirklichung ist.

Auch wenn es noch viele weitere Feinheiten gibt, wie die Idealisten die Natura naturans wahrgenommen und neu interpretiert haben, können wir wieder eine klare Unterscheidung erkennen zwischen der Natur als Objekt der Beschreibung in Form von kognitiven Urteilen auf der einen Seite und der Natur als lebendige, immer schöpferische Realität auf der anderen Seite.

Schließlich gibt es eine bemerkenswerte Parallele zur alten chinesischen Philosophie. Gleich im ersten Vers des Tao Te King lesen wir:

Das Namenlose ist das ewig Wirkliche. Das Benennen ist der Ursprung aller Einzeldinge. [8]

Die manifeste, objektive Welt, die Natura naturata, wird als Ergebnis der „Benennung“ gesehen, die die „Mutter aller Dinge“ ist. [9] Die Natura naturans ist das „ewig Wirkliche“ (Übersetzung von MacKay) oder der „Schöpfer von Himmel und Erde“ (Übersetzung von Legge). Und doch betont Laotse im selben Vers, dass beide aus derselben Quelle, aus einer „Natura“, fließen. Wieder sehen wir einen zweifachen Ansatz, einen vitalen, lebendigen und „unbenennbaren“ Aspekt und das Manifeste als das beobachtbare, objektive Ergebnis der Emanation.

Die Naturwissenschaften konzentrieren sich auf die Natur als ein System objektiver, beschreibbarer und messbarer Entitäten und Beziehungen, d.h. auf die Natura naturata. Bei der Quantenphysik legt allerdings die Struktur der Theorie selbst eine zweifache Beschreibung der Natur nahe, mit überlagerten (und oft verschränkten) und kollabierten Zuständen. Ein Zustand in einem abstrakten Quantenraum (dem so genannten „Hilbert-Raum“) mag nüchterner sein als das „opaleszierende“ Konzept der Natura naturans; aber die beiden Seiten der Quantentheorie könnten so etwas wie ein „strukturelles Echo“ von Natura naturans und Natura naturata sein, die das philosophische und mystische Interesse der Quantenphysiker auslösten.

Fluss und Emergenz des Wirklichen

Wir könnten in viele Richtungen tiefer gehen. Wir könnten das Denken Spinozas genauer betrachten. Wir könnten die Rolle von Natura naturans im Idealismus vertiefen und seine Parallelen zum östlichen Denken diskutieren, zum Beispiel mit der Beschreibung der Natur in der chinesischen Philosophie als shengsheng buxi (生生不息): erzeugen, erzeugen, niemals enden. [10] Wir könnten uns auch mit weiteren Implikationen der Quantenphysik befassen.

Aber für diesen Artikel mag es gut sein, eine andere Perspektive zu betonen. Wir leben nicht im Zeitalter des alten China, des Rationalismus (Spinoza), der Romantik (Schelling) oder der frühen Moderne (Quantenmechanik). Wir leben heute und dürfen uns fragen: Was hat das alles mit meinem Leben, mit meiner Praxis, meiner Suche, meinen direkten Erfahrungen zu tun?

Wenn wir für einen Moment die Idee der Natura naturans ernst nehmen, wenn wir spüren, dass die Wirklichkeit sich als ein pulsierender, sich immer neu bestimmender Moment erschafft, können wir eine Spur von etwas finden, das wir direkt und vollständig erfahren können. Unser Bewusstsein kann – und tut dies unter bestimmten Umständen auch – am sich vollziehenden Schöpfungsprozess teilhaben. Etwas in uns – wohl nicht unser Ego – ist Teil der Natura naturans, ist reine Aktivität, befindet sich an dem „Ort“, an dem die Gestaltung der Wirklichkeit geschieht.

Wir können den Ansatz der Naturwissenschaften anerkennen, die äußere und manifeste Natur zu betrachten, und haben dennoch ein Interesse daran, uns dem schöpferischen Prozess zuzuwenden, der dem Manifesten vorausgeht. Wir können unsere Rolle in diesem Prozess des Werdens erkunden, unsere Möglichkeiten des Bewusstseins und der Achtsamkeit in diesem nie endenden Fluss. Eine Möglichkeit, Zugang dazu zu finden, ist lange bekannt und wird gegenwärtig auch intensiv diskutiert (z.B. Tolle, 2005): Es ist die Fokussierung auf den gegenwärtigen Moment, da diese immanente Kraft hier und jetzt gegenwärtig ist, in eben der Situation, in der wir uns persönlich und historisch, mit all unseren Herausforderungen und Möglichkeiten, gerade befinden.

Es geht nicht um eine Projektion der schöpferischen Kraft auf einen anderen Ort oder eine andere Zeit oder auch auf eine andere Person oder Gottheit. Es geht nicht um einen Deus ex Machina, als ein Element im Handlungsrepertoire des kosmischen Spiels.

Zuweilen hören wir vielleicht die Musik der Natur, wir schauen auf die Natura naturata. Zu anderen Zeiten wird uns vielleicht bewusst, dass wir auch Teil des Prozesses des Schreibens dieser Musik sind, dass wir Komponisten sind. Beide Perspektiven haben ihren Platz. Jede Veränderung, jede Transformation entsteht als Ausdruck der Natura naturans, und wir können ein bewusster Teil dieses Prozesses der sich formenden Wirklichkeit sein. Wenn wir die Natura naturans in uns präsent halten, bietet sie uns einen Arbeitspunkt, der sich von den üblichen Eingriffen in äußere Umstände völlig unterscheidet.

Hier geht es nicht um Spekulation oder Phantasie. Es geht um eine andere Form der unmittelbaren Realität. Und es geht um die Möglichkeit einer Interaktion zwischen dem, was wir als gegebene Natur wahrnehmen, und dem Prozess der sich formenden Natur. Hier hören wir eher, zu als dass wir sprechen. Laotse sagt: „Befreit von Begehren, kann man das verborgene Geheimnis sehen“. [11] Wir treten in einen besonderen Zustand der Verbundenheit und Liebe ein, und wir betreten einen Raum, der das Feld der wahren Freiheit ist.

 

Weitere Referenzen

Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis: Felix Meiner Verlag, 2010, erste Ausgabe 1923

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Ausgewählte Schriften: Band 2: 1801–1803. Ueber den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Ideas for a Philosophy of Nature as Introduction to the Study of this Science: Cambridge University Press, 1988

Tolle, Eckhart: The power of now. A guide to spiritual enlightenment. London: Yellow Kite, 2005

 


[1] Tamvakis, Kyriakos: Basic quantum mechanics. Cham: Springer Nature (Undergraduate texts in Physics), 2019, S. 452

[2] Laloë, Franck: Do we really understand quantum mechanics? Strange correlations, paradoxes, and theorems. In: American Journal of Physics 69 (6), 2001, S. 655–701.

[3] Stachowiak, Herbert: Allgemeine Modelltheorie. Wien: Springer, 1973

[4] Wilber, Ken (Ed.): Quantum questions. Mystical writings of the world’s great physicists. Rev. ed. Boston, Mass.: Shambhala, 2001

[5] Aharonov, Yakir; Rohrlich, Daniel: Quantum paradoxes. Quantum theory for the perplexed. John Wiley & Sons, 2008

[6] Nadler, Steven: Baruch Spinoza. In: Edward N. Zalta (Ed.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Summer 2020: Metaphysics Research Lab, Stanford University. Available online at https://plato.stanford.edu/archives/sum2020/entries/spinoza/, checked on 9/2/2020.

[7] Hay, Katia D.: August Wilhelm von Schlegel. In: Edward N. Zalta (Ed.): a.a. O.

[8] Mackay, Rory B.: Tao Te Ching. The ancient book of wisdom. Second edition. Bend, Oregon: Blue Star Publishing, 2017

[9] Legge, James: The Tao-te Ching. Edited by Daniel C. Stevenson. MIT. Boston, 1994. Available online at http://classics.mit.edu/Lao/taote.1.1.html, checked on 10/3/2020.

[10] Perkins, Franklin: Metaphysics in Chinese Philosophy. In: Edward N. Zalta (Ed.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Summer 2019: Metaphysics Research Lab, Stanford University. Available online at https://plato.stanford.edu/entries/chinese-metaphysics/, checked on 9/27/2020.

[11] Mackay, a. a. O.

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Datum: Oktober 13, 2020
Autor: Orestis Terzidis (Germany)

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