Wahrnehmung – Was unsere Augen sehen

Wer betrachtet das Foto, Sie oder der Fotograf?

Wahrnehmung – Was unsere Augen sehen

Unser Auge filtert gewisse Details heraus, währenddem eine Kamera – das fünfte Auge – lückenlos alles festhält, eventuell auch das, was der Fotograf nicht gesehen hatte.

Darum ist es für den Fotografen Hiroshi Sugimoto nicht außergewöhnlich, dass er Wasserbewegungen, Filmtheater, Wachsfiguren, Dioramen und elektrische Entladungen als Themen wählt. Wahrnehmung ist sein eigentliches Betätigungsfeld.

Was sieht man nun eigentlich? Was bedeutet Sehen? Bei den meisten seiner Meeresbilder sehen wir nur Wasser und Luft. Das Auge sucht dann sogleich nach Details, nach etwas, das eine Geschichte erzählt oder dem eine Bedeutung zukommt. Der Horizont bietet dem rastlosen Auge nur scheinbar einen Ruhepunkt, denn es liegt in der Natur des Horizonts, dass er unerreichbar bleibt. Er steht für die Fülle der Leere – kein Boot, keine Möwe, keine Küstenlinie, weder Wolken noch Wellen.

Einige Fotos sind bewusst unscharf gehalten.

Es gibt nur das, was vorhanden ist. Das Auge sucht und neigt dazu, das, was vorhanden ist, nicht zu sehen.

Beeinflusst vom Zen-Buddhismus, fragte sich Sugimoto 1976: Was geschieht, wenn man einen ganzen Film in einem einzigen Foto festhält?

In seinen Aufnahmen von Filmtheatern sehen wir den Projektionsschirm, umgeben vom Theater. Weil er für ein einziges Foto den Verschluss für die lange Belichtung während einer gesamten Vorstellung offen hält, ist alles sich Bewegende nicht sichtbar.

Obwohl also Menschen hereinkamen, den Film sahen und wieder hinausgingen,sehen wir nur eine weiße Leinwand und leere Theaterstühle. Vom Film mit seinen sich bewegenden Bildern auf der Leinwand ist nur eine hell leuchtende Fläche übriggeblieben. Weil es einen Schirm gibt, sehen wir das Licht, das die Projektion ermöglicht.

Infolge des Lichts sehen wir den Zuschauerraum. Die Zuschauer selbst aber sehen wir nicht, den Film sehen wir nicht, sondern nur Licht und Raum.

Bei seinen Dioramen sehen wir nachgebildete Naturszenen. Es sind die in der viktorianischen Zeit so populären Bilder von Tieren vor einem Dekor, welches ihre natürliche Umgebung suggeriert. Auch die Wachsbilder historischer Figuren stellen lebende Wesen dar, sind aber lediglich äußerst genaue Kopien. Alles ist künstlerisch und wir erleben eine Zweite-Hand-Vision.

Denn wir sehen Interpretationen und Denkvorstellungen von etwas, das einmal gewesen sein muss. Das Leben dieser Tiere und Menschen selbst aber sehen wir nicht.

Die Suche nach der Wahrnehmung wird scharf fokussiert, wenn Sugimoto beim Fotografieren – neben der bizarr anmutenden Leblosigkeit – auch ihre Geschichte von Erziehung und Vergnügen hinzuzufügen scheint. Es entsteht Freiheit zu  Interpretieren. Die Bilder und Szenen auf seinen Fotos erhalten eine Qualität, die auch ein Maler erreichen kann, würde er solche Tiere und Menschen lebendig vor sich haben.

In seiner Serie „Lightning Fields“ scheint er sich der Leitung gebenden Herrschaft des Auges ganz entzogen zu haben. In einem mit Chemikalien gefüllten Bad, in dem eine fotografische Platte liegt, wird eine elektrische Entladung ausgelöst. Die Effekte dieser Entladungen werden somit festgehalten. Auf den Fotos mit ihren ätherischen Strukturen scheinen wir das auftretende Leben selbst zu erblicken, ohne das Auge des Fotografen als Zwischenmedium.

Seine Mitarbeit beschränkt sich auf seine Dienstbarkeit. Wir werden auf unsere eigene Wahrnehmung zurückgeworfen, Auge in Auge mit der Natur.

Indem auf den Theaterfotos der gesamten Filmvorstellung und ihrer Zuschauer nur die weiße Leinwand und der für das Theater bestimmte leere Raum festgehalten sind, wird das Vorübergehende des Lebens offenbar. Die Bewegung und Belebung des Menschlichen findet im Zeiträumlichen sowie in unserer eigenen Wirklichkeit statt.

Hinter unserer Belebung wird ein Fragezeichen gesetzt. Während wir denken, dass unser Auge neutral wahrnimmt, sehen wir lediglich unsere eigenen Ideen des Erschauten. Der Seher und das Gesehene bestätigen einander in ihrem zeitlichen und relativen Bestehen.

Erst wenn den Bildern und deren Wahrnehmung ein absoluter Status zugesprochen wird, wenn diese also als Realität anerkannt werden, wird ihr Scheinleben deutlich. Das Auge wird sehend blind. Wir sind dann in der unendlichen Geschichte der Gegensätze von Gut und Böse gefangen, Spannung und Entspannung, Hass und Liebe. Wir werden gezwungen, unserer Sucht nach Emotionen in dem „Film vom Schein der Wirklichkeit“ Genüge zu leisten und um seine Fortsetzung besorgt zu sein.

Die vielen sich verändernden Bilder auf der Leinwand sowie deren Wahrnehmung sind allein möglich, wenn es Licht gibt. Alles, was uns erscheint, wird ausschließlich durch Licht ermöglicht. Es ist offensichtlich das Bewusstseinslicht, das durch den Filmstreifen der Erinnerung scheint.

Es projiziert Geschichten und Bilder in unser Gehirn. Unser Verlangen und unsere Ängste deformieren die Wahrnehmung. Wenn es keine Zuschauer und keinen Film mehr gibt, existiert allein noch Licht. Kein Film ohne Betrachter. Publikum und Film, der Seher und das Gesehene, Subjekt und Objekt, sie bleiben am Ende unwirklich.

Nur das Licht bleibt bestehen und ist wirklich.

Auf den Fotos scheint das Licht des Filmprojektors vom Seher und dem Gesehenen befreit zu sein. Es scheint selbst den Platz des Sehers einzunehmen. Die Diktatur des durch Konditionierung getäuschten Auges scheint gebrochen zu sein.

Das Auge sieht mittels des Lichts, doch das Licht selbst sehen wir nicht, weil das Sehen und das Licht im Wesen eins sind. Das Sehen und die Helligkeit des Lichts, welches keinen Schatten wirft, macht bei Bedarf Gebrauch vom Auge, um „das, was ist“ auszustrahlen. Es ist das freie Bewusstseinslicht, die Seele, die alles kennt und allem Leben verleiht. Es gibt weder Kennende noch etwas zu Kennendes, es gibt nur noch das Kennen. Es ist die Erscheinung, die von allem befreit ist.

Das ist es auch, was in Sugimoto als Kind und später als Erwachsener bei seiner Zen-Orientierung und bei seinen außerkörperlichen Erfahrungen möglicherweise einen bleibenden Eindruck hinterließ, und was sein Suchen nach Wahrnehmung inspirierte. Wenn Sie denken, etwas zu begreifen, haben Sie  es auf einen Begriff reduziert.

Zuordnung von Wörtern und Begriffen wie Wasser und Luft ist in unserem relativen Bestehen natürlich praktisch.

Doch man erkennt dabei seinen beschränkten Horizont. Außerhalb unserer Relativität gibt es keine Fotos mehr, wo man unsere eigene Sicht sehen könnte. Es gibt nur Licht, das, was ist.

Print Friendly, PDF & Email

Share

LOGON Magazine

Bestellmöglichkeiten

über unseren Online-Shop oder per Email: shop@logon.media

  • Einzelheft 10 €, inkl. Versand (Ausland 14 €, inkl. Versand)
  • Einzelheft digital 4 €
  • Print-Abo 36 €, 4 Ausgaben/Jahr, inkl. Versand (Ausland 52 €), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.
  • Digitales Abo 15 €, 4 Ausgaben/Jahr zum Download (pdf), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.

Unsere neuesten Artikel

Post info

Datum: Oktober 9, 2017
Autor: Joehl (Netherlands)

Bild: