Der vertraute Fremde

Plötzlich ist die Wende im Leben da.

Der vertraute Fremde

Es war ein sonniger Tag und ich ging in den Park. „Meine“ Bank war besetzt, zum ersten Mal. Von hier aus kann man den ganzen Park überblicken, die Paare auf den Wegen, die sich küssen, lachen, sich streiten. Die einsamen Spaziergänger. Die Enten, Schwäne, die Gänse um den See herum. Die Hunde auf der Wiese, wo sie freien Auslauf haben. Es geht nichts über einen glücklichen Hund: alles an ihm vibriert, der Schwanz, die Ohren, das Haar.

Auf der Suche nach einer freien Bank blieb ich ein Weilchen stehen, um kleinen Kindern zuzuschauen. Sie waren glücklich, laufen zu können. Enten – Weltwunder. Seltsam, wie wir Erwachsene Tiere, die wir oft sehen, nicht mehr als etwas Besonderes empfinden. Einmal reichte mir ein Vogelliebhaber sein Fernglas und ich starrte auf einen Weidenlaubsänger. Einen Spatzen würde er nicht so anschauen. Der ist ja nur ein gewöhnlicher Vogel. Als ob es so etwas gäbe.

Ich suchte mir eine andere Bank. Warum den Park nicht einmal aus anderer Perspektive erleben? Ich fand eine schöne auf der anderen Seite des Sees, geschützt, nicht mit so weitem Blick. Eine kleine Insel lag vor mir, die ich bisher kaum beachtet hatte. Ein Eisvogel flog vorbei und links vor mir im Gebüsch ertönte lautes Zwitschern. Ich geriet ins Träumen, alles löste sich in einer wohltuenden Atmosphäre auf. Eine Leichtigkeit ergriff mich und ich tauchte darin unter.

Wie lange ich so saß, weiß ich nicht. Aber ich kam abrupt wieder zu mir, als sich jemand neben mich setzte. Ein Mann in meinem Alter, ebenfalls mit Brille, Mütze und Bart. Er begrüßte mich und zwinkerte mir zu, was ich seltsam fand. Man zwinkert einem Fremden nicht einfach zu, jedenfalls nicht ohne Grund. Er saß mir ein wenig zu nah und ich schob mich so unauffällig wie möglich zur Seite. Er stieß ein kurzes, lustiges Lachen aus, hatte es also bemerkt.

Eine nicht haltbare Situation

Ich bin kein gesprächiger Mensch. Ich beobachte andere gern, aber ich muss nicht mit ihnen reden. So schaute ich eine Weile steif nach vorn, aber die Situation war nicht haltbar. Es drängte mich immer dazu, zu meinem Nachbarn zu schauen. Der drehte sich leise in meine Richtung und summte vor sich hin. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sobald er mir seinen Kopf zuwandte, schaute ich in die andere Richtung. Ein paar Mal gelang das gut, aber dann – ob es nun zu spät war, mich abzuwenden, oder ob mein Kopf sich einfach zu ihm hindrehte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls habe ihn direkt angeschaut. Ich wollte etwas sagen, denn das tun Leute in einer solchen Situation, aber meine Lippen öffneten sich nicht. Ich schaute und sah ihn – wie soll ich es ausdrücken – von innen her, und er war mir so vertraut … Da kam ein weiteres kurzes Lachen von ihm, und ich liebte diesen Klang. Ich bin es nicht gewohnt, so etwas zu erleben, und ich kenne dafür nicht die richtigen Worte. Aber es war wunderschön, ich muss sagen, es war außerordentlich.

Gerade als ich so weit war, dass ich ihm fast etwas sagen konnte, stand er auf, tippte an seine Mütze und ging weg. Da saß ich nun, verwirrt, in einem Sturm von Gefühlen. Was war mit mir los? Mein ruhiges Vergnügen hatte sich zu einem Wirbel von Gefühlen verwandelt. Ich war nicht aufgeregt, nein es war ein Staunen und Glück und eine Empfindung, in lauter Missverständnissen zu leben. Aber was sollte ich machen? Darüber nachzudenken half nicht, und der Versuch, sich das Ganze noch einmal vorzustellen, funktionierte nicht. Mir schien sogar, dass das nicht erlaubt sei. So saß ich einfach nur da und die Welt um mich herum stand Kopf. Als es dunkel wurde, machte ich mich auf den Heimweg. Ich stolperte über einen Bordstein und lief zweimal in jemanden hinein. Zu Hause erzählte ich meiner Katze die Geschichte, aber sie konnte damit nichts anfangen.

Er sah mich an und begann ein Lied zu singen

Seitdem gehe ich nur noch zu der neuen Bank. Ich sehne mich danach, dass der Fremde wiederkommt, was ich eigentlich selbst als verrückt empfinde. Die verträumte Atmosphäre von damals ist nie wieder gekommen. Immer hat sich die Erinnerung dazwischen geschoben. Ich sagte mir irgendwann, dass ich mir das Ganze nur eingebildet habe, die Atmosphäre und den Fremden, oder dass ich es geträumt habe. Aber das hat mich nicht beruhigt.

Immer wieder sind die Gedanken zu diesem besonderen Moment zurückgekehrt, es ist fast zu einer Obsession geworden. Manchmal habe ich mich vor den Fernseher gesetzt, um mich abzulenken. Dabei bin ich oft eingeschlafen, doch das war nicht angenehm. Ich hatte das Gefühl, dass ich im Schlaf all das oberflächliche Gerede aufsauge, und so habe ich beschlossen, mich lieber ins Bett zu legen.

Das habe ich auch heute Nachmittag getan, und da hatte ich einen Traum, einen echten Traum, denn ich war eingeschlafen. Derselbe Mann kam herein, setzte sich auf meine Bettkante und lachte sein lustiges Lachen. Er sah mich an und begann ein Lied zu singen. Ich kannte das Lied, obwohl ich die Worte nicht verstand. Aber ich kannte es – seit Jahrhunderten. Er sah mich an und zwinkerte mir zu. Dann ging er wieder.

Jetzt sitze ich auf der Couch und stelle mir vor:

a. Ich sitze auf dieser anderen Bank und komme in eine verträumte Stimmung.

b. Ein Mann, den ich nicht kenne, setzt sich neben mich und zwinkert mir zu.

c. Er benimmt sich seltsam, summt und lacht, als wäre er ein guter Freund von mir, was gar nicht sein kann.

d. Dennoch vertraue ich ihm und empfinde sogar Zuneigung zu ihm.

e. Er geht weg und ich vermisse ihn sehr und sehne mich nach ihm.

f. Ich sehe ihn so lange nicht mehr, dass ich schließlich glaube, ich hätte mir alles nur eingebildet.

g. Und dann kommt er in meinem Traum wieder vorbei, und dieser Traum ist gar kein Traum, obwohl ich fest geschlafen habe.

Ich bin überzeugt davon, dass ich in diesem Schlaf wacher war als jetzt, wo ich klar denke. Nichts von dem, was ich erfahren habe, ist logisch. Aber ich spüre, dass sich in meinem Leben eine seltsame Wendung vollzogen hat und dass es an der Zeit war. Mich begleitet die Erinnerung an den, den ich nicht zu kennen glaubte, dem ich aber blind vertraue und der mich mit dem Blick seiner Augen erwärmt. Er ist jetzt immer bei mir.

Aber was bedeutet das Ganze? Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Ich lächle der Katze zu, und sie grinst zurück, breiter als je zuvor.

 

 

Print Friendly, PDF & Email

Share

LOGON Magazine

Bestellmöglichkeiten

über unseren Online-Shop oder per Email: shop@logon.media

  • Einzelheft 10 €, inkl. Versand (Ausland 14 €, inkl. Versand)
  • Einzelheft digital 4 €
  • Print-Abo 36 €, 4 Ausgaben/Jahr, inkl. Versand (Ausland 52 €), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.
  • Digitales Abo 15 €, 4 Ausgaben/Jahr zum Download (pdf), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.

Unsere neuesten Artikel

Post info

Datum: Januar 25, 2020
Autor: Amun (Netherlands)

Bild: