Die Wendung zum Schicksal

Die Weisheit des Tao te King schenkt dem Menschen ein neues Erkenntniswerkzeug und seinem Herzen ein neues Fundament. Wenn Tao in einem Menschen wirkt, werden die Dinge von innen her sichtbar. Er wirkt daran mit, sie zu ändern, indem er sie annimmt.

Die Wendung zum Schicksal

Der Weg zu Tao ist der Weg zur Ur-Mutter, zur All-Einheit. Auf ihm werden die Dinge von innen her als Wirkungen Taos sichtbar.

Wir leben in Unklarheit über die Zukunft. Das betrifft unsere persönliche Zukunft genauso wie die Zukunft des Planeten. Wir möchten planen, gestalten, kontrollieren. Das Leben jedoch teilt uns sehr oft andere Karten aus, als wir es gerne hätten. Andere Menschen kommen uns mit ihren Handlungen in die Quere, Viren befallen uns, globale Umwälzungen machen aus unseren Plänen Makulatur. Wer oder was ist da am Werk – Zufall, böse Absicht oder schicksalhafte Kräfte?

In den Weltreligionen kennt man lenkende Kräfte. Denn ihre inneren Lehren sehen das Menschenleben eingebunden in einen Kreislauf der Wiedergeburten, der dem Menschen Lernen, spirituelle Entwicklung und letztlich Befreiung ermöglicht. So trägt der Mensch ein Gepäck, das oft Karma genannt wird, so arbeitet die Menschheit insgesamt an ihrer Entwicklung. Das Karma beinhaltet nicht nur die Lasten vergangener Fehler und fortbestehende Bindungen, sondern auch Fähigkeiten und Seelenreife. So ist der Mensch auf dem Weg von der Unbewusstheit durch das enge Nadelöhr des Ego hindurch zum Erwachen seines wahren ewigen Selbstes, das eins mit Gott ist.

Im Taoismus, der das Konzept der Wiedergeburten ebenfalls kennt, wird der Weg des Menschen und der Welt als eine Abfolge von fundamentalen Gegebenheiten gezeichnet, die kein endgültiges irdisches Ziel wie Frieden oder Vollkommenheit haben. Dennoch ist es ein Weg zu Tao, zur Urmutter, zur All-Einheit. Das Tao Te King[1] schildert den Umgang mit Krieg und Frieden, Ehre und Schmach, Oben und Unten, Schön und Hässlich aus der höheren Perspektive des Tao. All diese Lebenslagen sind vergänglich, an nichts davon sollte der Mensch hängen. Alle Lehren dieses Buches sind dabei von einer gleichsam tänzerischen Leichtigkeit und Kraft durchdrungen – von der Freiheit, die eine Auswirkung der Verbundenheit mit Tao ist.

Das weitaus ältere I Ging[2] zeigt den Weg der Menschheit durch 64 Wandlungsphasen, die keiner endgültigen Lösung auf dem irdischen Plan zustreben, den Menschen aber reifen lassen und letztlich zu Wu Qi, der einen Urkraft, führen. Wie auch im Tao Te King ist klar, dass die Lösung auf einer anderen Ebene des Seins liegt, die alles Irdische durchdringt und trägt. Auf die Frage nach dem Schicksal bezogen zeigt sich in beiden Werken, dass der Mensch durch Höhen und Tiefen – und deren Annehmen! – einen Weg finden kann, der ihm die ewige Seinsebene erschließt. Wir bekommen keine Rezepte für Erfolg und ewigen Frieden, sondern Anstöße, das ewige Andere, das Tao, hinter dem „Guten und Bösen“ zu erkennen und uns mit ihm zu vereinen. Dies ist die Aufgabe des Schicksals. In diesem Sinne sagt das 16. Kapitel des Tao Te King:

Schaffe Leere bis zum Höchsten!
Wahre die Stille bis zum Völligsten!
Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben.
Ich schaue, wie sie sich wenden.
Die Dinge in all ihrer Menge,
ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.

Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.
Stille heißt Wendung zum Schicksal.
Wendung zum Schicksal heißt Ewigkeit.
Erkenntnis der Ewigkeit heißt Klarheit.

(…) Erkennt man das Ewige,
so wird man duldsam.
Duldsamkeit führt zur Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit führt zur Herrschaft.
Herrschaft führt zum Himmel.
Himmel führt zum Sinn[3].
Sinn führt zur Dauer.
Sein Leben lang kommt man nicht in Gefahr.[4]

Wer kann – und sollte – in sich Leere bis zum Höchsten und Stille bis zum Völligsten schaffen, also sein Bewusstsein vom Gewicht der Welt befreien und sich zu Tao erheben? Derjenige Mensch kann es, in dem Tao zu wirken beginnt. Tao wirkt aus sich selbst heraus, es schenkt dem Menschen ein neues Erkenntniswerkzeug und seinem Herzen ein neues Fundament. Mit diesem kann man das Weitere verstehen und die Welt aus der Perspektive des Tao sehen. An verschiedenen Stellen im Tao Te King fragt Lao Tse: Woher weiß ich das? Und die lapidare Antwort lautet: „Eben daher.“ Deswegen ist es auch unmöglich, die Lehren des Tao argumentativ zu untermauern. Wenn Tao in einem Menschen wirkt, wird er von der Wahrheit dieser Lehren berührt. Die Wurzel aller Dinge wird gleichsam sichtbar. Ganz gleich, wie uns die Dinge begegnen, für uns wenden sie sich dann um, werden von innen her als Wirkungen Taos sichtbar. Sie sind vergänglich. Sie sind aber auch eins mit Tao, weil Tao sie trägt. Genauso kehrt jeder einzelne Mensch, der Tao in sich erkennt und ihm folgt, im Leben zu Tao zurück. Zuerst ist dies ein Erkenntnisprozess. Wer diese Tatsache für sich selbst fundamental annehmen kann, kann zur Wurzel zurückkehren, indem er sein Ich an Tao hingibt. „Er entäußert sich seines Selbst, und sein Selbst bleibt erhalten.“[5] Das wahre Selbst, das in dieser Stille aufscheint, ermöglicht die Wendung zum Schicksal.

Die Lehren des Schicksals annehmen

Dies ist kein Trick der Altvorderen, um in den Menschen Schicksalsergebenheit zu evozieren – in Unterdrückung, im Verharren in starren Hierarchien und Systemen. Im Gegenteil: Das Wesen eines Menschen, der sich seines (alten) Selbstes entäußert, wird weit. Dennoch hat er noch einen Weg zu gehen, der ihm erleichtert wird, wenn er die Lehren des Schicksals annimmt. Deshalb muss er sich zum Schicksal hinwenden. Er ist ohnehin eins damit. Wir verschwenden meist viel Energie damit, Dinge zu verdrängen, zu ignorieren oder von uns weg auf andere zu schieben. Doch: wir sind eins mit den Dingen, die uns begegnen. In der Stille ist es möglich, dieses Verbundensein zu erkennen und die Lehren anzunehmen. Dies ist ein tiefer seelischer Prozess, den man mit Worten nicht erfassen kann. Es ist ein Subtilerwerden, ein Einswerden mit allem, was ist – und dadurch paradoxerweise ein sukzessives Freiwerden von der materiellen Welt und ihrer Abfolge von Ursache und Wirkung. „Wendung zum Schicksal heißt Ewigkeit.“ In einem alchimischen Prozess bringt das Schicksal, was es auch sei, das Ewige in uns zum Vorschein.

In Lao Tses Worten bringt die Erkenntnis der Ewigkeit Klarheit und macht duldsam. Klarheit und Duldsamkeit haben tatsächlich einen Berührungspunkt: indem die gewonnene Klarheit eine vertieftes Empfinden und Erkennen derjenigen Weisheit mit sich bringt, die in allen Geschehnissen wirkt. Wer sich hierfür öffnet, wird duldsam und kann alle Dinge annehmen. Hierzu muss vielleicht gesagt werden, dass im Annehmen dennoch die Möglichkeit steckt, Dinge zu ändern und zu gestalten. Um wieviel heilsamer ist das Tun eines Menschen, der nicht aus Aggression oder Gegnerschaft gegenüber Menschen und Umständen handelt, sondern aus dem Annehmen. Genau deshalb führt das Annehmen in den Worten des Tao Te King zur Gerechtigkeit. Man muss sich nicht selbst verteidigen, man will nichts für sich persönlich erreichen. Diese Art von Gerechtigkeit führt zum Himmel. Das Tao Te King ist voll von Aussagen darüber, welchen Segen ein solches Sein und Handeln bewirkt, wie hier im zweiten Kapitel:

(…) Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne [persönlich motiviertes] Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor, und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Er wirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht,
so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlassen.

Lao Tse zeigt hier das Bild eines Menschen, der Weisheit, Liebe und Kraft in sich vereint, ohne alle Nebenwirkungen. Das ist ein erhabenes Bild. Uns kann es dazu inspirieren, dem Schicksal mit offenen Augen und offenem Herzen zu begegnen.

 


[1] Das Tao Te King stammt vermutlich aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert. Ob es von einem einzelnen Menschen namens Lao Tse („alter Meister“) stammt, ist unklar. Tao bedeutet „Weg, Sinn“, Te bedeutet „Tugend, innere Stärke“ und King bezeichnet ein kanonisches Werk. Diesem Artikel liegt eine Übersetzung von Richard Wilhelm zugrunde.

[2] Das I Ging stammt aus dem 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Ursprünglich wurde es als Orakel verwendet, das Kaisern und Feldherren bei schwierigen Entscheidungen helfen sollte. Heute kann man es als Spiegel aller erdenklichen Stationen auf dem Lebensweg betrachten. Die 64 Wandlungsphasen sind Hexagramme, Kombinationen von sechs mal Yin oder Yang. Jede Wandlungsphase zeigt als Antwort auf eine gestellte Frage die vorhandenen Hindernisse sowie den Weg zum Meistern einer fundamentalen Situation. Interessant sind unter anderem die Hexagramme Nr. 63 „Nach der Vollendung“ und Nr. 64 „Vor der Vollendung“. Das I Ging endet also nicht mit einer Betrachtung der Vollendung, die zu erreichen wäre, sondern mit „vor der Vollendung“. Die beiden Themen der letzten Hexagramme werden auch mit „Der Fluss ist bereits überquert“ und „Der Fluss ist noch nicht überquert“ bezeichnet. Das Überqueren des Flusses ist ein Sinnbild des Abschließens von Aufgaben und des Abschiednehmens vom Alten. Das I Ging zeigt, dass eine endgültige Lösung von Aufgaben auf dem irdischen Plan nicht möglich ist, dass die Vollendung im irdischen Feld nicht zu einem ewigen Gleichgewicht oder Glückszustand führt. So dienen die 64 Wandlungsphasen der Bewusstwerdung über das Wesen der Welt und dem eigenen Reifungsprozess zur endgültigen Befreiung, dem Aufgehen in der einen Urkraft.

[3] Das heißt, zu Tao.

[4] Laotse: Tao Te King, übersetzt und mit einem Kommentar von Richard Wilhelm, Kreuzlingen / München 2008

[5] ebd., in Kapitel 7

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Datum: Juli 11, 2020
Autor: Angela Paap (Germany)

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