Immer wieder ich

Die Arbeit am Selbst ist meistens eine Arbeit am Selbstbild; dabei spielt das Bild, das andere von einem haben sollen, manchmal eine gewaltige Rolle. Doch irgendwann können wir davon Abstand nehmen und uns Wichtigerem zuwenden.

Immer wieder ich

In jedem Augenblick wählst du dein Selbst. Aber wählst du – dich selbst? Körper und Seele haben tausend Möglichkeiten, aus denen du viele Ichs bauen kannst. Doch nur eines von ihnen ergibt die Kongruenz zwischen dem, der wählte, und dem Gewählten. Nur eines – und du findest es erst, wenn du alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hast, alles neugierige Tasten, verlockt von Staunen und Begehren, zu seicht und flüchtig, um Halt zu finden im Erlebnis des höchsten Mysteriums des Lebens: dem Wissen um das anvertraute Pfund, das „du“ bist.

Dag Hammarskjöld[1]

An sich selbst arbeiten –

in der Regel steht dieses Thema nicht oben auf unserer Agenda. Wenn nicht gerade Silvester ist und man sich fragt, ob man nicht mehr Sport treiben oder abnehmen sollte, oder den vollgestopften Alltag (oder den Kleiderschrank) entrümpeln – alles Fragen, die um das Selbstbild kreisen – beschäftigt die Arbeit am Selbst die meisten Menschen eher wenig.

Alles, was mit Konkurrenz und Status zu tun hat und uns dazu bringt, Dinge zu tun oder anzustreben, die uns intelligenter / „taffer“ / wohlhabender / geschmackvoller aussehen lassen und die wir nicht um ihrer selbst willen tun oder anstreben: Auf diese Weise „arbeiten“ wir beinah unablässsig, Aber man sieht an dieser Stelle schon, dass die Arbeit am Selbst nicht auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit beschränkt ist. Was ich tue, womit und mit wem ich mich umgebe, all das spielt eine Rolle. Das Außen lässt sich nicht vollständig vom Innen (dem „Selbst“) trennen.

Wenn man aber wirklich anfängt an sich zu arbeiten, geht es an den Charakter und damit (wenn man sich nicht zu leicht zufrieden gibt) ans Eingemachte. Wie ist es, wenn wir versuchen, in der engeren Umgebung Konflikte aufzulösen, alte Streitigkeiten beizulegen? Man kann konfliktträchtige Themen meiden, sich Geduld auferlegen, Strategien für den Umgang mit Menschen finden, die immer wieder Spannungen auslösen. Man kann aber auch tiefer blicken und feststellen, dass im eigenen Inneren Anlässe für diese Spannungen vorhanden sind. Manche Menschen lösen Abwehrreaktionen in uns aus, und wir wollen uns von ihnen abheben, sie ins Unrecht setzen, sie in den Hintergrund drängen, ihnen ihre Defizite klarmachen. Oft zeigt ein nüchterner Blick, dass sie nichts wirklich Kritikwürdiges getan haben. Dennoch wehren wir uns, kämpfen wir. Etwas an diesen Menschen rührt an unser Selbstverständnis und bringt uns zu übertriebener Abgrenzung. Und es mag scheinen, dass das Loslassen dieses Konflikts uns etwas von uns selbst wegnähme. Dass wir, um die Spannung zu beseitigen, etwas von uns selbst aufgeben müssten. Bin ich nur, wenn ich mich von X oder Y abheben kann?

Ein Weg zeigt sich

Es gibt eine Seelenentwicklung, in deren Verlauf wir solche Abgrenzungen aufgeben können. Im Herzen eines jeden von uns wohnt ein Seelenprinzip, das aus der göttlichen Ur-Einheit stammt. Wenn es sich entfalten kann, werden die Grenzen unseres aktuellen Ichs durchlässiger, weil sie immer weniger notwendig sind. Die Seele, die in der Einheit erwacht, kann tatsächlich aufhören, sich abzugrenzen und zu kämpfen. Sie braucht keine Konflikte. Das jetzige Ich kann ohne Abgrenzung nicht sein, es meint sich zu verlieren, wenn es keine Grenzen ziehen kann, über die es wenigstens teilweise die Kontrolle hat.

So entwickelt sich im eigenen Innern ein Kampf zwischen dem Ichhaften und der (Ewigkeits-)Seele. Wer zur Selbsterkenntnis bereit ist, lernt all die Hinweise anzunehmen, die in den immer noch unvermeidlichen Konflikten liegen. Die Seele empfindet den Schmerz der Abweisung, der Rechthaberei, der Grenzüberschreitungen dem Anderen gegenüber. Dieser Schmerz ist ein Wegweiser zu neuen Entscheidungen, zum Loslassen der alten Grenzen. Jede solche Empfindung zeigt mir, wer ich derzeit bin und stellt mir die Frage, wer ich sein möchte – oder im tiefsten Wesen, eigentlich, bin. Und es scheint ein Weg auf, der noch zurückzulegen ist.

Ein Freund sagte mir einmal, das äußere Leben mit all seinen Ereignissen sei so etwas wie mein „externes Ich“. Ich habe diese Äußerung lange nicht verstanden. Aber für das gesamte Leben gilt das Gleiche wie für die mehr oder weniger konfliktträchtigen persönlichen Begegnungen. Jeden Tag kommen Ereignisse auf mich zu, auf die ich reagieren muss. Vieles kann ich nicht kontrollieren. Aber jede einzelne Begebenheit zeigt mir, wer ich bin. Freude, Gier, Angst, Abgrenzung: Ich öffne und schließe meine Grenzen, ich ringe um Kontrolle. In Momenten der Ruhe kann ich zugeben, dass ich mich selbst in meinen Reaktionen kennen lerne.

Ich bin nicht nur, wer ich in meinen vier Wänden am Feierabend bin. Ich bin nicht nur, wer ich unter Freunden bin. Ich bin alles, was auf mich zukommt, denn ob ein Ereignis gut oder schlecht ist, entscheide ich, spontan und unbewusst. Bis ich es zulassen kann, dass die Ereignisse mein Leben – und mich – formen. Bis die Seele stark genug ist, um die Waage von Gut und Böse zum Stillstand zu bringen und in dieser Stille das wahre Selbst aufscheint, zu dem ich auf dem Weg bin. Bis ich dieses Selbst wählen kann.

 


[1]    in: Zeichen am Weg, München 2005, Seite 51

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Datum: Februar 23, 2019
Autor: Carin Rücker (Germany)

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