Nichtsein

Damit Neues entstehen kann, muss Platz geschaffen werden.

Nichtsein

Was meinte Christus, als er sagte: „Wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden“ (Matthäus 10, 39)?

Es gibt das biblische Gleichnis vom „reichen Jüngling“. Er war reich an Qualitäten, wie es auch heute viele spirituell interessierte Menschen sind. Als er dazu aufgefordert wurde, all dies zurückzulassen und ins ungewisse Neue zu gehen, wandte er sich ab (Lukas 18, 18 ff).

Jesus sagte daraufhin, dass es schwer ist für einen „reichen“ Menschen, ins Himmelreich zu kommen. Die Jünger fragten: „Wer kann dann selig werden?“ Und sie erhielten zur Antwort: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“ (Lukas 18, 26 f) Der irdische Mensch, auch der spirituell „angereicherte“, kann das Lichtreich nicht betreten.

In der Urschrift der Rosenkreuzer, der Fama Fraternitatis aus dem Jahr 1614, wird berichtet, dass Christian Rosenkreuz den Weisen seiner Zeit seine Schätze anbot. Doch sie wollten sie nicht haben. Was waren das für Schätze? Sie bezogen sich auf den Weg der Neugeburt, auf den Weg, der Platz schafft für das Neue.

Die Fama Fraternitatis berichtet in ihrem zweiten Teil, wie die Brüder des Rosenkreuzes auf der Suche nach dem Grab des Gründers ihres Ordens sind. Sie stoßen schließlich auf einen „Grabtempel“. Es ist ein transzendenter Ort, gelegen in der Tiefe des menschlichen Herzens. Das Wissen, wie man dorthin gelangt, war verloren gegangen. Erst nach dem Tod von „Bruder A“ wird der Zugang entdeckt. A ist der erste Buchstabe des Alphabets. Dieses kann als Symbol dienen für all die Inhalte des menschlichen Bewusstseins. „Bruder A“, der Wächter an der Tür, muss Platz machen, damit aus der Tiefe das Unerhörte, das zu uns gehört, aufsteigen kann.

An die Stelle von „Bruder A“ tritt „Bruder NN“, der Namenlose. Er ist es, der die entscheidende Veränderung ermöglicht. Er findet, so heißt es in der Fama Fraternitatis, eine „Gedenktafel aus Messing“ und geht daran, sie in ein „geeigneteres Gewölbe“ zu versetzen. Dazu zieht er einen großen Nagel, an dem sie befestigt ist, heraus. Ein Stein löst sich, der Putz bröckelt ab und eine Tür wird sichtbar.

Die Auflösung, das Abbröckeln des Putzes unseres bisherigen Selbstverständnisses ermöglicht einen Zugang zum Innersten. In uns liegt eine andere Identität verborgen, sie ist gleichsam in uns „begraben“. Das Grab ist ein „Tempel“, das Heilige in uns. Wenn es zutage tritt, bedeutet es eine Neugeburt.

Wer sein Leben verliert „um meinetwillen“, wird den Grabtempel finden. Die Neugeburt erfolgt aus diesem Innersten heraus. Die Bibel spricht von der Wiedergeburt aus „Wasser und Geist“, die Rosenkreuzer nennen sie die Transfiguration. Im Neuen Testament geschieht sie auf dem „Berg Tabor“. Diejenigen, die ihn besteigen, werden von einer Wolke aus Licht umhüllt (Matth. 17, 5).

Die Wolke – das ist ein Bild für die Kräfte, mit denen sich das wahre Selbst des Menschen umhüllt. Es kann erst in Erscheinung treten, wenn ihm der Weg bereitet wird, wenn das jetzige Ich bereit ist, in dem wahren Ich unterzugehen.

Das Auflösen der bisherigen eigenen Größe führt zu Erfahrungen mit dem „ungeschaffenen Licht“. Damit gehen Einsichten einher, die nicht leicht zu verkraften sind. Doch wer sich der inneren Verwandlung „um Gottes willen“ und um des großen Weges der Menschheit willen unterwirft, erlebt, wie ihm Stärke, Durchhaltevermögen und Inspiration geschenkt werden.

Eine andere Rosenkreuzerschrift, die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz“ (1616), beschreibt, wie alle, die an der „chymischen“ (d. h. bis in die Elemente des Körpers hinein reichenden) Hochzeit teilnehmen möchten, einer Prüfung auf sieben Waagschalen unterzogen werden. Christian Rosenkreuz hält den sieben Gewichten stand, weil er sich selbst keine Vorzüge zuweist. Er weist auf Gottes Gnade hin und vertraut nicht auf persönliche Fähigkeiten und Vorzüge.

Wir sprechen oft von Dienstbarkeit. Sie hat damit zu tun, dass man Opfer bringt. Das Wort Opfer heißt auf Lateinisch sacrum (das Heilige). Dienstbarkeit im ursprünglichen Sinn bezieht sich also darauf, das „Heilige zu tun“, oder, anders gesagt, dem Heiligen Raum geben, damit „es“ mit unserer Hilfe handeln kann.

Das bedarf der Hingabe, der Selbstaufgabe gegenüber dem „inneren Gott“. Eine vollständige Selbstaufgabe erscheint unmöglich. Zu viele Bereiche unseres bisherigen Selbst bleiben im Unbewussten. Sie lassen sich nicht mit einbeziehen in die Hingabe an das innere Licht, denn wir haben keinen Zugriff auf sie. Gleichwohl ist es möglich, „das eigene Leben zu verlieren“ in dem Sinne, wie die Schriften es meinen. Das immanente Göttliche spiegelt sich, sobald wir ihm entgegen gehen, in unsere Bemühung hinein. In seiner Kraft erneuert sich das Bewusstsein, bis es schließlich vollkommen neu aufflammt, in einer neuen seelischen Gestalt.

Man sagt, Gott habe die Welt aus dem Nichts erschaffen. Besser wäre es zu sagen, er hat sie „im Nichts“ erschaffen. Denn es bedarf der Leere, es bedarf des Platzes für die neue Schöpfung. Und das gilt auch für den Menschen, in dem sie stattfinden soll.

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Datum: März 11, 2019
Autor: Ventsislav Vasilev (Bulgary)

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