Pierre Teilhard de Chardins Zukunftsvision

Das ganze universelle Entwicklungsgeschehen hat eine Richtung. Im Inneren der Dinge wirkt eine spontane Verbindungskraft, eine Kraft der Organisation und der Vereinigung: „Was aufsteigt, strebt zusammen“.

Pierre Teilhard de Chardins Zukunftsvision

Wer war Pierre Teilhard de Chardin?

Der französische Theologe, Philosoph und Naturforscher Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) verband ein modernes Weltbild mit tiefer Spiritualität. Er war Teilnehmer mehrerer Forschungsreisen nach Asien und Afrika und beteiligte sich in China an der Ausgrabung und Auswertung des sog. Peking-Menschen. Die Kirche (Teilhard war Jesuit) lehnte seine Erkenntnisse ab und verbot ihre Veröffentlichung. So wurde sein Gesamtwerk erst nach seinem Tode gedruckt. Teilhards Denken erscheint heute als aktueller denn je. Er sieht die ganze Schöpfung als im Werden begriffen, in einem Prozess der Vereinigung; die größte Kraft darin ist die Liebe.

Die sieben Hauptmerkmale des Weltbildes von Teilhard de Chardin

Als einer der ersten Theologen setzte sich Teilhard mit der Evolutionstheorie Darwins auseinander und stellte sie in einen größeren kosmologisch-christlichen Zusammenhang. Das daraus entstehende ebenso revolutionäre wie evolutionäre Weltbild weist sieben Hauptmerkmale auf:

1. Das ganze Universum ist ein unermessliches, dynamisch pulsierendes Geschehen in dauernder Entwicklung.

2. Auf der Erde haben sich im Laufe der Jahrmillionen immer komplexere Lebensformen entwickelt.

3. Die Dinge haben eine Innen- und eine Außenseite, die einander entsprechen: Je höher entwickelt ein Lebewesen ist, desto komplexer ist es, desto mehr Bewusstsein hat es.

4. Im Innen der Dinge wirkt eine spontane Verbindungskraft, eine Kraft der Organisation und der Vereinigung: „Was aufsteigt, strebt zusammen“ – „Tout ce qui monte, converge“.

5. Um die Erde hat sich eine geistige Sphäre gebildet, das Bewusstseinsfeld der Menschheit, die Noosphäre.

6. Es gibt zwei voneinander getrennte Realitäten. Die eine ist „natürlich“, die andere „übernatürlich“. Diese zweite Realität nannte Teilhard „göttlicher Bereich“ (le Milieu divin). Die beiden Realitäten streben dahin, sich einander zu nähern und schließlich zum Zusammenklingen zu kommen.

7. Das ganze universelle Entwicklungsgeschehen hat eine Richtung. Die Kraft der Vereinigung wandelt alles um und bewegt alles auf ein endgültiges Ziel hin. Dieses Ziel ist eine unvorstellbare, höchst bewusste und komplexe Einheit. Teilhard nennt sie den „Punkt Omega“. Dieses Ziel ist nicht von außen vorgeschrieben oder festgelegt. Die Kosmogenese tastet sich voran und entwirft dabei das Ziel selbst, Schritt für Schritt.

Die Menschheit – ein lebendiger Organismus [1]

Schon 1920, also vor ziemlich genau hundert Jahren, hat sich Teilhard in Paris Gedanken über die Zukunft der Religionen gemacht:

„Das Wesen, das aufgerufen ist, in die totale Kraft der irdischen Evolution einzugehen und zur Blüte zu gelangen, muss eine vereinte Menschheit sein, in der sich das volle Bewusstsein jedes Individuums mit dem Bewusstsein aller anderen Menschen verbindet. […]

Das opus humanum ist ein lebendiger Organismus. Die Fortschritte dieses Organismus entziehen sich unserem Blick, weil man, um ein Ding zu erkennen, über ihm stehen muss. – Und doch, gibt es nicht etwas in uns, das sich allmählich erhellt und immer stärker vibriert? […]

Die meisten, die diese Ebene erahnen, erwarten eine neue Religion, die alle Kulte der Vergangenheit ersetzt. Diese Bewegung strebt dahin, in allem die Einheit zu fördern. […]

Das Fundament des Tempels, in dem sich die neu Beseelten versammeln, wird vermutlich nicht auf den Ruinen der alten Religionen stehen.“

Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Glauben [2]

Während des Zweiten Weltkriegs war Teilhard in Peking interniert. Dort schrieb er 1941 den Aufsatz Über die möglichen Grundlagen eines gemeinsamen menschlichen Credos. Für ihn war es ein Versuch, „die verschiedenen weltlichen und religiösen Glaubensformen, in die die Menschheit derzeit aufgesplittert ist, in ihren Grundzügen zur Deckung zu bringen, um so den Boden für eine neue Ordnung vorzubereiten“. Dieser Beitrag sei „die Frucht von dreißig Jahren aufrichtigen Kontakts mit wissenschaftlichen wie mit religiösen Kreisen in Europa, Amerika und im Fernen Osten“.

Hier eine Zusammenfassung dieses Aufsatzes:

Das Streben nach Mehr-Sein ist ebenso alt und ebenso universell wie die Welt selbst. Ja, soweit wir die Fortschritte des Lebens nach rückwärts bis in seine bescheidensten Anfänge verfolgen können, sehen wir diese durch die Tendenz zu irgendetwas sie Übertreffenden bewegt.

Und dann kam der kritische Moment, da sich das Instinkthafte im Denken reflektierte. Von diesem Augenblick an musste der unvorstellbar primitive Mensch, der Träger dieser umwerfenden Erkenntnis, den vitalen Ehrgeiz verspüren, alles zu erobern und sich selbst zu übertreffen.

Der uralte Glaube an eine bessere Zukunft

Tatsächlich sind Märchen, Mythen und Bräuche voller Symbole, in denen der tief verwurzelte Wille durchscheint, sich einen Weg bis in den Himmel zu bahnen. Daraus können wir schließen, dass der Glaube des Menschen an eine bessere Zukunft älter ist als jede Zivilisation, dass er die Triebkraft der Geschichte bildet, aus der wir aufsteigen.

Unser Bewusstsein, so fixiert man es auch in seinen Grundlinien annehmen mag, erhebt sich in gewissen Augenblicken zur Wahrnehmung neuer Dimensionen und Werte. Gerade jetzt befinden wir uns in einem dieser Augenblicke des Erwachens und der Umwandlung.

Im Laufe einiger weniger Generationen hat sich, fast ohne dass wir es bemerkten, unser Blick auf die Welt zutiefst gewandelt. Unter den vereinten Einflüssen der Naturwissenschaften, der Geschichte und der gesellschaftlichen Veränderungen hat ein neues Bewusstsein der Zeit und der Gemeinschaft unseren ganzen Erfahrungsbereich erobert und umgestaltet.

Jetzt gibt sich uns die Zukunft als einen Zeitraum der Entwicklung und der Reifung zu erkennen, in dem wir nur noch solidarisch voranschreiten können. Das löst natürlich eine geistige Krise aus. In diesem Prozess stehen wir heute [Anm.: Teilhard schrieb dies 1941!]

Freiwilliger Zusammenschluss

Heute wird die Menschheit sich ihrer Einheit nicht mehr nur rückwärts im Blut, sondern auch nach vorn im Fortschritt bewusst. Sie empfindet in der Folge das vitale Bedürfnis, sich in sich selbst zusammenzuschließen. Überall, und insbesondere zwischen den religiösen Gruppen, zeichnet sich eine Bewegung der Wiedervereinigung ab. Man entdeckt unter oder über dem Trennenden etwas, was zusammendrängt.

Wo aber ist dieses geheimnisvolle Prinzip der Annäherung zu finden? Ist es unten oder ist es oben? Liegt es in einem gemeinsamen Interesse – oder aber in einem gemeinsamen Glauben?

Ein gemeinsames Interesse oder eine gemeinsame Bedrohung vermag Menschen für eine gewisse Zeit miteinander zu verschweißen. Doch diese Form der Synthese bleibt zerbrechlich, wenn sie unter dem Druck eines Bedürfnisses oder einer Furcht zustande gekommen ist. – Die menschliche Einheit kann aber nicht durch Zwang von außen, sondern nur durch freiwilliges Zusammenschließen wachsen und andauern. Hier enthüllt sich der Glaube an den Menschen. Es ist ein tiefes, gemeinsames Streben als Gegengewicht gegen die Kräfte der Auflösung und Zerstreuung.

Der Sinn für die Erde

Glaube an Gott und Glaube an die Welt: Wenn sich diese beiden Energien miteinander verbinden würden, könnten sie einander verstärken. – Aber wo findet sich das Milieu für diese wünschenswerte Vereinigung oder Transformation? – Im fortwährenden Aufstieg von Bewusstsein.

Der Sinn für die Erde öffnet sich und bricht nach oben in einem Sinn für das Göttliche auf; und der Sinn für das Göttliche wurzelt und nährt sich nach unten in dem Sinn für die Erde. Das transzendente, personale Göttliche und das in Evolution begriffene Universum sind so nicht mehr zwei widersprüchliche Brennpunkte; sie bilden vielmehr zwei einander anziehende Pole. Genau die Transformation, die wir suchten!

Die Einmütigkeit von morgen

Eine „heilige Union“, die Vereinigung all derer, die glauben, dass das Universum noch voranschreitet und dass wir den Auftrag haben, sein Voranschreiten zu erleichtern, ja zu bewirken: Sollte das nicht der feste Kern sein, um den sich die Einmütigkeit von morgen entwickeln muss?

Der Gedanke einer möglichen Vereinigung unserer individuellen Bewusstheiten zu einem gemeinsamen „Über-Bewusstsein“ erweist sich mit jedem Tag als wissenschaftlich begründeter und als psychologisch notwendiger. Diese Idee scheint auch als einzige fähig zu sein, das große Ereignis vorzubereiten, das wir erwarten: ein neues Kapitel des Lebens, das ein neues Zeitalter begründet.

 

 


[1]  Aus: Sinn und Ziel der Evolution, Ausgewählte Texte, bearbeitet und herausgegeben von Peter Gotthard Bieri, Aachen 2010, Kap. 1: Ist die Evolution zu Ende?

[2]  Aus: Pierre Teilhard de Chardin: Sinn und Ziel der Evolution, Kap. 14.

 

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Datum: Oktober 13, 2020
Autor: Peter Bieri (Switzerland)

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