Tibet 1986 – Begegnung mit der Stille

Es gibt Orte, an denen die Stille sich konzentriert.

Tibet 1986 – Begegnung mit der Stille

Im Sommer 1986 war es für eine kurze Zeit möglich, von Nepal nach Tibet zu reisen, ohne Beschränkungen, ohne Aufsicht und minutiös festgelegten Reiseablauf. Diese Gelegenheit nutzten wir, um das Mysterium Tibet zu erkunden.

Wir fanden aufregende Landschaften, zerklüftete Berge, den schneebedeckten Himalaya im Süden und trostlose Steinwüsten im Norden; einfache Nomaden mit Jurten, Yaks und scharfen Hunden. Ein chinesischer Fahrer führte uns zu den Plätzen, die wir besichtigen wollten, und trotz Kommunikationsschwierigkeiten kamen wir fast immer dort an, wohin wir wollten.

Eine unfreiwillige Station war das Dorf Nyalam; unfreiwillig deshalb, weil eine Brücke, über die unser Weg führen sollte, weggeschwemmt war. Wir verbrachten die Nacht in dem Dorf und wurden am Morgen von Einheimischen auf eine nahe gelegene Höhle aufmerksam gemacht, in der Milarepa jahrelang meditiert haben soll.[1]

Die Höhle des Milarepa

Nach kurzem Spaziergang erreichten wir die Höhle. Der Eindruck war erhaben: eine serene Stille, keine murmelnden Mönche, nur Ruhe und Frieden. Wir waren die einzigen Besucher, ein schweigsamer Mönch zeigte uns den Weg. Die reine Atmosphäre, die Ruhe und Vollkommenheit überwältigten uns. Keiner sprach ein Wort. In uns selbst versunken, nahmen wir die Schwingungen des Ortes auf.

Man konnte förmlich den Gesang Milarepas, wie er überliefert ist, spüren. Oder war es die „Stimme der Stille“?

Die Weiterfahrt über mehr als 5000 Meter hohe Pässe, der Besuch verschiedener Klöster in Shigatse, Lhasa, Potala, des Haupttempels in Lhasa Zentrum, des Jokhang-Tempels – wir erlebten dies alles, aber bei allem schwangen die Eindrücke aus Milarepas Höhle mit. Das Murmeln der Mönche, das Schlagen der Pauken, die trompetenartigen Instrumente und die Klangbecken, all dies erschien uns als Äußerlichkeit, die keine tiefgründige Erfahrung oder Berührung hervorrufen konnte. Es war das Spiel von Vergangenem und Gegenwärtigem der tibetischen Kultur.

In Lhasa wurden wir auf das südlich der Stadt gelegene Tal der Könige aufmerksam gemacht. Wir konnten unseren Fahrer überzeugen, uns dorthin zu fahren, obwohl er nie in diesem Tal war und kein Tourist es als Ziel hatte.

Im Tal der Könige

Dort angekommen, konnte man auf der gegenüberliegenden Seite des Tales eine Reihe von Erdhügeln erkennen. Es waren die Gräber der vor-lamaistischen Könige, die mit Hilfe von Lehrern aus Indien den Buddhismus in Tibet verbreitet hatten.

Auf einem Hügel hinter dem Parkplatz entdeckten wir eine kleine Gompa[2], ein einfaches Gebäude, das stark im Gegensatz stand zu den großen Klöstern und Gompas, die wir bisher angeschaut hatten. Wir stiegen den Hügel hinauf und wurden immer stärker von der Ruhe und Leichtigkeit der Atmosphäre eingenommen. Es war ganz ähnlich wie in der Höhle des Milarepa.

In der Gompa stand eine einfache Statue, die den König Somtsang Gampo mit seinen beiden Frauen, von denen die eine aus Nepal und die andere aus China stammte, darstellten. Somtsang Gampo wird als der Große König verehrt, der den Buddhismus in Tibet einführte. Über die Verbindungen seiner beiden Frauen soll er auch den Ausgleich zwischen China und Nepal gefördert und Kunst und Wissenschaft aus beiden Ländern nach Tibet gebracht haben.

Als wir einige Zeit versunken in den Anblick der schönen Figuren verbracht hatten, kamen weitere Besucher, Tibeter, die in Neu Delhi leben. Sie verneigten sich ehrfürchtig vor den Statuen, verblieben ruhig und andachtsvoll und nahmen die besondere Schwingung des Gebäudes wie auch seiner Umgebung auf.

Nach einiger Zeit gingen wir zusammen nach draußen und halb flüsternd fragten uns die Tibeter: „Was ist das für ein besonderer Ort? Wie kommt es zu dieser so eindringlichen Schwingung und Stimmung?“

Diese Atmosphäre, diese Ruhe, die fast überirdische Gelöstheit, die in keinem Kloster mit viel Prunk und Gebeten erreicht werden kann, was ist das?

Ist es ein Ruf aus der Vergangenheit der buddhistischen Könige, aus einer Zeit, die noch nicht mit Ritualen und Getöse überfrachte war? Ist es die Verbindung zu einer anderen Welt?

Die Suche nach einer Antwort, die Erinnerung an diese Begegnung mit der Stille, nahmen wir mit uns. Und noch heute, mehr als 30 Jahre später, schwingt sie weiter …

 

 

 

 


[1] Jetsün Milarepa (* 1040; † 1123) war ein tantrischer Meister und der Begründer der Kagyü-Schulen des tibetischen Buddhismus. Er war der tantrische Yogi, der die Mahamudra-Übertragungslinie Marpas weiterführte. Er gilt als einer der größten Yogis und Asketen Tibets. Darüber hinaus gilt er auch als größter Dichter Tibets. (Wikipedia)

 

[2] Gompa (bzw. Gönpa) ist ein Typ buddhistischer Tempel in Tibet, Ladakh, Nepal und Bhutan. Gompas sind üblicherweise Teil eines buddhistischen Klosters und bestehen zumeist aus einer zentralen Gebetshalle mit einer Buddha-Statue und Bänken zum Gebet sowie angrenzenden Wohnräumen. (Wikipedia)

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Datum: Dezember 18, 2017
Autor: Horst Matthäus (Nepal)
Foto: ph

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