Vergebung – ein Ritual der Befreiung

Vergebung als befreiende und alles Niedere verwandelnde Kraft fließt aus einem kosmischen Liebesstrom

Vergebung – ein Ritual der Befreiung

Vergebung ist der Duft, den das Veilchen

dem Absatz schenkt, der es zertreten hat.           

Mark Twain

Vergebung ist ein bewusster, befreiender Liebesakt, der im eigenen Wesen beginnt und tiefen Frieden schenkt.

Das Geheimnis der Heilung und Erlösung durch Vergebung kann erst wirklich entschlüsselt und schließlich erfahren werden, wenn wir zum Bewusstsein gereift sind, dass wir zwei Seelen in unserer Brust tragen, von denen die eine erdverbunden, die andere himmlischer Natur ist. Wir sind keine materiellen Wesen, die spirituelle Erfahrungen machen, sondern spirituelle Wesen, die auf der materiellen Ebene zur Selbsterkenntnis finden.

Das himmlische Selbst wartet in unendlicher Geduld, dass der irdische Mensch sich ihm öffnet, um seine wahre, seelisch-geistige Identität zu erkennen. Zugleich weckt es in ihm die Erinnerung an jene Aufgabe, der er vor seiner Geburt zugestimmt und die er in seinem physischen Dasein meist vergessen hat. In verblendeter Unwissenheit kreuzigt unser Erden-Ich täglich sein ewiges Selbst in geistigem Sinn. Und dieses vergibt ihm, wie Jesus Christus auf Golgatha seinen Henkern vergab mit den Worten: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“

Vergebung bedeutet zugleich Hingabe. Gemeint ist die freiwillige Übergabe unserer irdischen Persönlichkeit an unseren innewohnenden ewigen Seelenkern, in dem und durch den der  kosmische Christusimpuls befreiend wirksam werden kann. Unser niederes Ich lebt noch in den alttestamentarischen mosaischen Gesetzen, unser himmlisches Selbst, das in Christus erweckt wurde, schenkt sich in Freiheit der Vervollkommnung der Menschheit und der Heilung ihrer Welt.

Vergib, bevor die Sonne untergeht

Hawaianisches Sprichwort

Man muss mit dem Vergeben beginnen im Jetzt und Hier, damit man selbst Vergebung und Befreiung empfangen kann. Vergebung als befreiende und alles Niedere verwandelnde Kraft fließt aus dem Liebesstrom des Christusgeistes. Erst wenn wir diesen Christusimpuls, den uns eingeborenen Sohn, wieder erkennen und bereit sind, ihm die Führung unserer Geschicke zu übergeben, kann auch durch uns die Wandlung zum allein Guten erfolgen.

Die größte Macht im Universum ist die Liebe. Sie weist jede Klage, jede Schuld, alle Minderwertigkeit und Feindseligkeit ab. Liebe sieht das Gemeinsame und reinigt das Trennende. Das höchste Gebot auf dem Weg zum Aufgenommensein in der Matrix der allumfassenden Liebe ist: Niemanden verletzen!

Vergebung vermag auch unser Selbst aus der vermeintlichen, uns fortdauernd quälenden Opferrolle zu befreien, mit der sich unser Ego gerne bekleidet. Dazu ist tiefe Einsicht aus unserem höheren, transpersonalen Bewusstsein notwendig. Erst wenn wir erkannt haben, dass die Menschen aus unserem persönlichen Umfeld, wie Eltern oder Geschwister, Partner oder Freunde, uns nicht aus vollem Bewusstsein verletzt haben, sondern gemäß ihres aktuellen Bewusstseinszustandes handelten mit all seinen individuellen Begrenzungen, können wir in uns das Opferdasein überwinden, indem wir eine fundamentale Vergebung in uns vollbringen. Die heilenden Impulse sind sowohl für uns selbst als auch für alle Betroffenen befreiend und nachhaltig.

Vergebung löst alle Konflikte

Der Mensch ist ein soziales Wesen, und ohne die genesende Kraft des Vergebens kann sich weder der Einzelne noch die Menschheitsfamilie lebens- und entwicklungsfähig erhalten. Urteilen oder Nachtragen wirkt wie ein schleichendes Gift auf das Individuum und die Gemeinschaft. Vergebung ist gleichsam ein Reinigungsritual, bei dem eigene destruktive Verhaltensmuster, Missverständnisse und veraltete Glaubenssätze aufgelöst werden. In der wahren Vergebung vollzieht sich ein Akt der Selbstüberwindung, die erst eine reservelose Versöhnung ermöglicht. In dieser Selbstübergabe an den höheren Menschen in uns lassen wir zu, dass die Christuskraft in und durch uns wirksam werden kann. Dort nur schöpfen wir aus der Quelle aller Barmherzigkeit und unbegrenzten Verzeihens.

Wahre Vergebung trägt immer einen Opfercharakter. Sie wird von wacher innerer Aktivität getragen. Neben dem Entschluss, die uns zugefügten Misshelligkeiten zu vergessen, nehmen wir zugleich die Verpflichtung auf uns, die objektiv entstandenen Schäden, die in der Dissonanz entstanden sind und nicht nur uns, sondern auch der Matrix des Lebens Schaden zugefügt haben, wieder gutzumachen. Wir geben der Welt in der Vergebung die Kräfte zurück, die ihr durch den Zwist, in dem sie gebunden wurden, geraubt waren.

„Liebet eure Feinde!“

Das Wort Vergeben umfasst im erwachten Seelenmenschen die stetige, von Liebe getragene Bereitschaft, sich in einer Generalabsolution in die Welt zu verströmen. Die Vorstufe zu diesem Vermögen kommt in dem Wort Verzeihen zum Ausdruck, das im Kern mit verzichten verwandt ist und das eine freiwillige Absage an alle Bestrebungen bedeutet, die von unserem niederen, opportunistischen Ich ausgehen. Im Verzeihen wird uns zugleich der Trank des Vergessens gereicht, was eine nachhaltige Befreiung von allen karmischen Fesseln gegenseitig belastender Unstimmigkeiten bedeutet.

Probleme werden auf unserem Lebensweg vor uns aufgeworfen, damit wir an ihnen wachsen. Menschen, die wir durch einen Konflikt als unsere Feinde betrachten, sind in Wahrheit unsere Freunde, weil sie uns einen Anstoß zu einer Entlarvung der im eigenen Inneren noch verborgenen Schatten geben, die zur Entstehung der Disharmonie beigetragen haben. Sind wir zur Bereinigung bereit, ändert sich auch unsere äußere Lebenssituation. Deshalb ist das Christuswort: „Liebet eure Feinde“ eine sichere Wegweisung in eine höhere Lebensoktave, in der wir im reinen Seelenbewusstsein aufgehen können.

Der Mensch entfesselt mit jedem Verzeihen einen Teil des Karmafeldes der Welt, das unseren Kosmos mit einem dichten Netz eiserner Notwendigkeiten durchzieht. Er öffnet damit die Tür zu dem höheren christozentrischen Kraftfeld, aus dem die Gnade fließt, welche Notwendigkeit in Freiheit wandelt.

Der „eingeborene Sohn“, die unsterbliche Seele, kann auch das verhängnisvollste, selbstentfesselte Schicksal durchbrechen, wenn wir uns ihr anvertrauen. Das ist die Schuldvergebung, die das Karma durch Liebe löschen kann.

Alles verstehen heißt alles verzeihen

Jeder von uns ist ein Teil dieser Welt. Wenn wir uns ändern, ändert sich dadurch auch die Welt. Die erste Stufe zur Vergebung ersteigt man, indem man Verständnis entwickelt, eine urteilsfreie Akzeptanz, die alle Vielfalt zulässt in dem Bewusstsein, dass sie in einer höheren Seinsoktave, jenseits des Trennungsbewusstseins unserer Ich-Natur, sich zu einem Ganzen fügt.

So wachsen wir hin zu der Erfahrung, dass alles mit allem verbunden ist in einer gemeinsamen Matrix unbegrenzter Möglichkeiten, und es wächst das Verständnis für alle unterschiedlichen Bewusstseinsausprägungen und individuellen Lebensaufgaben. Aus dieser Erkenntnis entsteht die Bereitschaft zu Toleranz und zum Verzeihen. Die Reichweite der Vergebung ist unbegrenzt und durchdringt alle kosmischen und mikrokosmischen Ebenen, da sie aus einem transpersonalen, christusverbundenen Bewusstsein wirkt.

Die höchste Stufe von Vergebung erfüllt sich, wenn eine im Geist erwachte Seelenentität das Karma eines Menschen oder einer Menschengruppe auf sich nimmt, wie es im Mysterium von Golgatha von Jesus Christus vorgelebt wurde. Das Karma der ganzen Menschheit in ihrer Evolution mitzutragen ist eine nie erlahmende Gebärde des Vergebens, die auch – so Rudolf Steiner – die befreite Wesenheit des Christian Rosenkreuz auf sich genommen hat, um uns den Weg zur Verwirklichung der Transfiguration zum Geist-Seelen-Menschen in unserer Zeitenwende offen zu halten.

Die unerschöpfliche Liebesmacht des kosmischen Christusgeistes vermag auch die kosmischen Widermächte Luzifer und Ahriman aus ihrer Entzweiung zu versöhnen und sie schließlich aus ihrer fatalen Gefangenschaft in die Erlösung zu führen. Sie können sich nicht aus eigener Kraft befreien: Luzifer, der „schöne Schein“, der erdenflüchtige Verführer zu Phantasmen und Imitationen; Ahriman, der Erdensüchtige, der sich in den Kräften der Materie, in der materiellen Wissenschaft und ihrer Technik offenbart.

Wenn der Mensch den Christusimpuls in sich erkennt und sich auf dessen universelle Weisheit einlässt, dann geschieht das große Wunder, dass alle luziferischen Kräfte im eigenen Mikrokosmos und zu gegebener Zeit auch im Makrokosmos im Liebesakt der Vergebung erlöst werden können und Luzifer als wahrer Lichtträger aufsteigt. Die Erlösung Ahrimans wird durch eine Menschengemeinschaft möglich, die im Einklang mit der erlösenden Christuskraft lebt und wirkt.

So verstehen wir, dass Vergebung eine spirituell-moralische Kraft ist, die der Verwirklichung des Christusimpulses in unserem gegenwärtigen Menschsein dient. In dem lebendigen Bekenntnis: „Nicht ich, sondern der Christus in mir“ wandelt sich der Opfergang zu einem menschheitsbefreienden Freudengang.

 

Literatur:

Dupreé, U. E., Ho’oponopono, das hawaiianische Vergebungsritual, Schirner Verlag

Prokofieff, S. O., Die okkulte Bedeutung des Verzeihens, Verlag Freies Geistesleben

Tipping , C. C., Ich vergebe, der radikale Abschied vom Opferdasein, Kamphausen Media GmbH

Van Rijckenborgh, J., Die Ägyptische Urgnosis, Band IV, Rozekruis Pers, Haarlem

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Datum: September 20, 2022
Autor: Dr. Dagmar Uecker (Germany)
Foto: Annette Meyer auf Pixabay CCO

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