Wahrnehmung ist absichtsvoll – Teil 1

Der Philosoph René Descartes glaubte, dass unser Bewusstsein die äußere Welt reflektiert, wie ein Spiegel das reflektiert, was vor ihm liegt. Das heißt, die Anordnung zwischen Innen und Außen ist passiv. Die meisten Philosophen folgten Descartes, bis Edmund Husserl den absichtsvollen Charakter unseres Bewusstseins und unserer Wahrnehmung der Welt entdeckte. Unser Bewusstsein gleicht einer Hand, die sich ausstreckt, um die Welt zu ergreifen.

Wahrnehmung ist absichtsvoll – Teil 1

Eine der wichtigsten Entdeckungen zum menschlichen Bewusstsein wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von dem deutschen Philosophen Edmund Husserl gemacht. Er war entsetzt über den Zustand, in den die Philosophie geraten war; sie war gleichsam überwuchert von Hegelschen Abstraktionen und außerdem dem Relativismus des „Psychologismus“ unterworfen, der behauptete, dass philosophische Fragen auf psychologische Fragen reduziert werden könnten. Husserl wollte mit allen Annahmen und Voraussetzungen aufräumen, die sich um unsere innere und äußere Wirklichkeitserfahrung angesammelt hatten, und neu beginnen. Sein Aufruf lautete: „Zu den Dingen selbst!“ Was hat er damit gemeint?

Im Wesentlichen ging es Husserl um eine Rückkehr zu den Phänomenen des Bewusstseins, zu den „Dingen“, derer wir uns bewusst sind, entweder in der Welt „draußen“ – Bäume, Sterne, andere Menschen – oder in der Welt „drinnen“ – Gedanken, Bilder, Ideen –, obwohl genau diese Unterscheidung zwischen „drinnen“ und „draußen“ eine der Grundannahmen war, von denen Husserl sagte, wir müssten sie „in Klammern setzen“. Er ging daran, alles, was wir über die Wirklichkeit, die Welt und unser Verhältnis zu ihr zu wissen glauben, vorübergehend beiseite zu legen und zu versuchen, sie neu, wie zum ersten Mal, zu sehen – und dann zu beschreiben, was wir sahen.

Die Dinge “frisch und neu” sehen

Husserl entwickelte eine philosophische Methode, mit der er versuchte, vertraute Dinge „neu“ zu sehen; er nannte sie Phänomenologie. Die Phänomenologie ist im Grunde eine Untersuchung der Phänomene, die sich dem Bewusstsein präsentieren, und zwar in der Art und Weise, wie sie sich präsentieren. Wenn wir also einen Kurs in Phänomenologie belegen würden, würde der Dozent auf ein Objekt zeigen und sagen: „Sagen Sie mir nicht, was das ist, sondern was Sie sehen.“ Das heißt, unsere Aufgabe als Phänomenologe ist es nicht, etwas zu definieren – das heißt, zu sagen, was es ist –, sondern es zu beschreiben. Die Dinge „frisch“ und „neu“ zu sehen, gehört zum Wesen der Poesie, und die meisten Dichter sind geborene Phänomenologen, auch wenn sie es vielleicht nicht wissen.

Durch diese Methode erkannte Husserl etwas äußerst Wichtiges über das Bewusstsein: es ist intentional, absichtsvoll. Was ist damit gemeint? Husserl wusste, dass ein früherer Philosoph, Franz Brentano, darauf hingewiesen hatte, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. Bewusstsein ist das Erkennen eines „Etwas“ durch jemanden, oder, abstrakt ausgedrückt, es ist das Erkennen eines Objekts durch ein Subjekt. Es gibt das Bewusstsein (also uns als  den Menschen) und das, wessen wir uns bewusst sind (was immer wir betrachten oder woran wir denken). Ein Bewusstsein ohne Objekt wäre wie ein Spiegel, vor dem sich nichts befindet, also leer (idealerweise ein Spiegel in einem leeren Raum). Brentano ging also davon aus, dass es kein Bewusstsein „an sich“ gibt, ohne Inhalt – obwohl bestimmte östliche Vorstellungen über das Bewusstsein dies bestreiten. Aus seiner Perspektive würde ein „Bewusstsein von nichts” bedeuten, unbewusst zu sein.

Was Brentano als logische Notwendigkeit des Bewusstseins auffiel, weckte bei Husserl noch weitreichendere Einsichten. Er entdeckte, dass das Bewusstsein nicht nur immer Bewusstsein von etwas ist, sondern dass es absichtsvoll ist. Ein Spiegel reflektiert, was ihm vorgesetzt wird, und eine Reflexion ist immer eine Reflexion von etwas. Aber kein Spiegel beabsichtigt, etwas zu reflektieren, er tut es einfach. Husserl erkannte, dass das Bewusstsein, wenn man es nur wie einen Spiegel ansähe, in der Tat ein sehr merkwürdiger Spiegel wäre, denn es ist dann ein Spiegel, der gleichsam nach Dingen greift, um sie zu reflektieren.

Das Bewusstsein greift nach der Welt

Mit anderen Worten, Husserl sah, dass für das Bewusstsein nicht nur ein Subjekt und ein Objekt Voraussetzung ist, sondern dass sich in dieser abstrakten Anordnung noch eine aktive Komponente befindet. Das Bewusstsein – das heißt unsere Wahrnehmungen, entweder der äußeren oder der inneren Welt – Ist intentional, absichtsvoll. Das bedeutet, dass es dahinter einen „Willensträger“ geben muss, der das Objekt des Bewusstseins „beabsichtigt“. Das Bewusstsein ist nicht wie ein Spiegel, der passiv eine Welt reflektiert, die bereits da ist und darauf wartet, reflektiert zu werden. Es ist vielmehr wie ein Pfeil, der auf sein Ziel geschossen wird. Und wenn es ein Pfeil ist, dann muss es auch einen Schützen geben, der die entsprechende Absicht hat.

Aber selbst die Pfeil-Metapher greift zu kurz, um den intentionalen Charakter unseres Bewusstseins und unserer Wahrnehmung der Welt zu beschreiben. Unser Bewusstsein gleicht eher einer Hand, die nach der Welt greift, als einem Pfeil, der auf ein Ziel gerichtet ist. Aber genauso wie ein Pfeil das Ziel treffen oder völlig verfehlen kann, kann unser Erfassen der Welt stark, schwach oder überhaupt nicht vorhanden sein.

Dies war eine völlig andere Art des Bewusstseinsverständnisses als die, die in der westlichen Philosophie seit Jahrhunderten vorherrschend war. Wir können sagen, dass die passive Sichtweise des Bewusstseins von dem Philosophen Descartes begründet wurde, einige Jahrhunderte vor Husserl. In seinem Bemühen, zu einer grundlegenden Gewissheit zu gelangen, auf der er das Fundament des Wissens aufbauen konnte, unterzog Descartes alles, was er konnte, einem radikalen Zweifel. Das einzige, worüber er sich nicht täuschen lassen konnte, so Descartes, war seine eigene Existenz. Über alles andere konnte er getäuscht werden, aber nicht über seine eigene Existenz, denn um getäuscht werden zu können, musste er existieren.

Nachdem dies geklärt war, kam Descartes schließlich zu dem Schluss, dass es zwei grundlegend verschiedene Arten von „Dingen“ gibt, die er res cogitans und res extensa nannte, das heißt das Denken und die sinnliche Welt, das Innere und das Äußere. Er konnte nicht herausfinden, wie diese beiden Dinge zusammenwirken, und überließ dies Gott, und wir haben dieses Rätsel als die „Trennung von Körper und Geist” geerbt. Aber er glaubte, dass unser Bewusstsein die äußere Welt reflektiert, wie ein Spiegel das reflektiert, was vor ihm liegt. Das heißt, die Anordnung zwischen Innen und Außen ist passiv.

Ist das Bewusstsein ein „unbeschriebenes Blatt”?

Die meisten Philosophen, die Descartes folgten, akzeptierten diese Auffassung und gingen sogar noch weiter, um den passiven Charakter des Bewusstseins zu betonen. Descartes griff allerdings auch noch auf den Begriff der „angeborenen Ideen“ zurück, um ein Wissen zu erklären, das dem Denken inhärent zu sein schien, das heißt, nicht erlernt wurde. Der Philosoph John Locke lehnte den Begriff der angeborenen Ideen jedoch ab und behauptete, das Bewusstsein sei tabula rasa, ein „unbeschriebenes Blatt“, so lange leer, bis etwas von außen auf es einwirke. „Es gibt nichts im Bewusstsein“, erklärte Locke, „was nicht zuerst in den Sinnen war“. In dieser Sichtweise des Bewusstseins ist unser Denkvermögen also wie eine leere Wohnung, bis wir Möbel besorgen, um sie einzurichten.

Aus der Sicht des „unbeschriebenen Blattes“ leitet sich übrigens die Idee ab, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“, auf der die moderne Demokratie aufbaut. Das heißt, dass es so etwas wie das „göttliche Recht der Könige“, wie man früher glaubte, nicht gibt.

Für Husserl war die Sache anders,  obwohl auch er kein Interesse an dem göttlichen Recht der Könige hatte. Seine Sicht des Bewusstseins unterschied sich von der, die zu seiner Zeit vorherrschte. Aber dennoch hat er einige illustre Weggefährten. Platon zum Beispiel glaubte, dass alles Wissen Erinnerung sei, und im Dialog Meno demonstriert Sokrates, wie ein ungebildeter Sklave dennoch die Grundlagen der Mathematik in sich trägt. Nicht lange nach Husserl führte der Psychologe C.G. Jung den Begriff der Archetypen ein für das, was er als eine Art ererbte psychische Schablone erkannte, die das Bewusstsein über die rohe Erfahrung legt, um ihr damit Gestalt und Form zu geben. Es gibt noch weitere Beispiele, die deutlich machen, dass es im Westen eine Tradition gibt, die die „weiße Weste“ des menschlichen Bewusstseins ablehnt und stattdessen argumentiert, dass wir zwar körperlich, aber nicht geistig nackt auf die Welt kommen. Das heißt, dass unsere inneren „Wohnungen” bereits mit der Neigung und auch der Ausrüstung ausgestattet sind, die Welt zu “umarmen”.

Warum ist das wichtig? In der Sichtweise des „unbeschriebenen Blattes“ sind wir passive Empfänger von Reizen, die von außen kommen. Ohne diese Reize wären wir träge, so wie ein alter Süßigkeiten- oder Zigarettenautomat träge ist, bis jemand eine Münze in den Schlitz wirft und den Griff betätigt. Der Süßigkeiten- oder Zigarettenautomat wird niemals von sich aus seine Waren ausgeben, weil er „Lust“ dazu hatte. Würde er anfangen, seine Waren auszugeben, ohne dass eine Münze eingeworfen wird, würden seine Besitzer dies bald bemerken und ihn abschalten. Nach der Ansicht der „weißen Weste“ wären wir in etwa in der gleichen Situation, also absolut abhängig von äußeren Kräften, die uns motivieren. Wir ähneln dann Robotern oder jedenfalls einer Art Maschine. Was wir als „freien Willen“ erleben, ist in Wirklichkeit eine Illusion.

Das ist für die Verhaltenspsychologie schon vor langer Zeit zu einer Ausgangsbasis geworden, als sie beschloss, nicht mehr zu versuchen zu verstehen, was in den Köpfen der Menschen vorgeht, sondern sich auf das zu konzentrieren, was sie tun, also auf ihr Verhalten. Das heißt, auf das, was man sehen und messen kann. Der Verhaltenspsychologie zufolge ist es nicht notwendig, ein „Bewusstsein“ oder eine „innere Welt“ zu postulieren, um zu erklären, wie wir handeln; außerdem, wer hat jemals ein Bewusstsein gesehen? Man müsse nur wissen, welche Reize uns stimulieren, dann könne man jedes Verhalten vorhersagen. Das war etwas, was Werbetreibende und Politiker gern zur Kenntnis nahmen. Vor Jahren schlug der Verhaltenspsychologe B.F. Skinner vor, dass wir „Freiheit und Würde“ vergessen und uns der Konditionierung unterwerfen sollten, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Seine Absichten mögen gut gemeint gewesen sein, aber wie viel „besser“ könnte eine Gesellschaft ohne Freiheit und Würde sein, die aus hirnlosen Individuen besteht, die alle die Konditionierung ausleben, der sie unterworfen wurden?

(wird fortgesetzt in Teil 2)

 

 

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Datum: Januar 24, 2022
Autor: Gary Lachman (Great Britain)
Foto: Alexandr Ivanov auf Pixabay CCO

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