Die Macht der Kunst. Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys – Teil 1

Hermann Achenbach (LOGON) interviewte den Autor und Filmemacher Rüdiger Sünner. – Brauchen wir einen neuen Blick auf Joseph Beuys, eine der bedeutendsten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts?

Die Macht der Kunst. Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys – Teil 1

H. A.: Der Geburtstag von Joseph Beuys jährte sich am 12. Mai 2021 und es fällt auf, dass sich gerade in diesem Jahr viele kritische Stimmen erheben. Tritt seine menschenberührende und geistige Kunst in den Hintergrund? Will der Zeitgeist den Materialismus endgültig als Maß aller Dinge etablieren, oder bleibt er nicht doch nur ein Mittel, der Evolution vorübergehend Inspirationsimpulse zu geben? Nimmt die Spaltung der Menschen auch in der Kunst seinen Weg: Fake oder Wahrheit? Polarisierung?

Wir benötigen ein feines Sensorium

R. S.: Ja, Beuys Kunst tritt momentan vollkommen in den Hintergrund, es wird im Grunde unterschwellig der Personenkult fortgesetzt, der sonst immer kritisiert wird. Statt die berührenden Werke auf sich wirken zu lassen, klopft man das Leben auf biographische „Schwachstellen“ ab, etwa auf mehrdeutige Äußerungen oder Bekanntschaften mit ehemaligen Nazis. Oder man versucht, Beuys auf Teufel komm raus vor Zeitgeistthemen wie zum Beispiel Ökologie und Kapitalismuskritik zu spannen. Das alles wird ihm nicht voll gerecht.

Ich meine, dass trotz seiner politischen Programme immer noch das mehrere tausend Einzelstücke umfassende Werk im Mittelpunkt stehen solle, das ja auch in vielen Museen zugänglich ist. Aber ich habe den Eindruck, dass heute ein feineres Sensorium für Kunst überhaupt fehlt: Was nicht schnell politisch oder aktuell eingeordnet werden kann, existiert eigentlich kaum mehr. Dabei sollte man sich daran erinnern, dass ästhetische Objekte ihren Namen ja von dem griechischen aisthesis erhalten haben, was „Wahrnehmung“ und „Empfindung“ bedeutet. Über solche Fähigkeiten sollte man sich Beuys nähern und nicht über intellektuelle Einordnungen und Zuschreibungen.

H. A.: Herr Sünner, Sie haben einen Dokumentarfilm gedreht und ein gleichnamiges Buch geschrieben: Zeige deine Wunde. Sie gehen hier sehr sensibel mit der Kunst von Joseph Beuys um und beweisen eine große Recherche-Qualität. Diese beuyssche Installation, die im Lehnbachhaus in München zu sehen ist, spricht ja intensiv vom Leiden des Menschen, von Heilung und Verklärung. Ist dieses Werk nicht typisch für die Menschenliebe von Beuys und die Anerkennung der Macht des Schicksalhaften durch den Künstler?

Zeige deine Wunde

R. S.: Absolut, kaum ein Werk hat mich so stark berührt. Ich durfte ja eine ganze Stunde alleine, nur in Begleitung der Restauratorin, vor ihm verbringen, es filmen und seine enorme Aura auf mich wirken lassen. Die Restauratorin erzählte mir, dass Schulklassen entsetzt an der Installation vorbeieilen, um zu Franz Marcs schönen Pferden zu kommen, aber in mich drang Beuys’ stilles Werk tief ein: das Leiden, der Tod, der Schmerz und der Zerfall unserer Körper waren präsent in dem Raum, die Messverfahren von Medizin und Pathologie, aber die altertümlichen Handwerksgeräte mit den roten Bändern erzählten auch von Vitalität, und die Kinderschrift auf den Schiefertafeln („zeige deine Wunde“) erinnerten mich an den Wert der Verletzlichkeit. Ein intimer Meditationsraum, wie es heute nur wenige gibt, intensiver im Grunde als Kirchen oder Yogaräume. Ich wählte dieses Motto auch als Titel für Film und Buch, weil es mir ermöglichte, beim Filmen und Schreiben auch selbst „meine Wunden zu zeigen“. Nur darauf aufbauend ist auch echte Heilung möglich.

H. A.: Dieser Gedanke berührt mich auch sehr. Die eigene Verwundung zu offenbaren ist ja auch mit „Sich öffnen“ und Vertrauensbildung dem Mitmenschen gegenüber in Zusammenhang zu bringen. Hat denn die Verdrängung, die den Dialog über Verletzung und alte Wunden nicht zulässt, damit zu tun, dass der Mensch das Unangenehme seiner Existenz nicht sehen will oder falsch interpretiert?

R. S.: Ich habe das Gefühl, dass solche Dimensionen heute bei Beuys kaum gesehen werden – oder nicht gesehen werden wollen. Er hat leider selbst durch endlos viele Auftritte, Fernsehinterviews und Fotos an dem gewaltigen Personenkult mitgearbeitet, der sich nun vor sein Werk schiebt. Etiketten wirken in der Öffentlichkeit: „Der Mann mit dem Hut“, der „Clown“, „Agitator“, „Entertainer“, „Provokateur“, „Performer“ oder eben jetzt der „Völkische“ oder „Deutschnationale“, was natürlich alles von den abgründigen und  existenziellen Aspekten seines Werkes ablenkt. An mir prallen diese Medienzuschreibungen ab, man sollte bestimmte Kritikpunkte genauer untersuchen, aber in der persönlichen Begegnung mit dem konkreten Werk helfen sie nicht weiter. Daher lasse ich ja auch in meinem Film die Objekte, Zeichnungen und Installationen selbst in aller Ruhe zum Zuschauer sprechen.

H. A.: An anderer Stelle sagt Beuys, dass gerade das Leiden dem Menschen hilft. Zwei Schicksalswege führen zur Bereicherung der Welt: das aktive Tun und das Erleiden. Er sagt: Ein krankes Kind, das nichts tun könne und im Bett liege, erfülle durch sein Leiden die Welt mit christlicher Substanz. Hört sich das nicht sehr buddhistisch an? Zeigen nicht gerade solche Gedanken die zutiefst menschliche und barmherzige Seelenhaltung von Joseph Beuys?

„Der letzte christliche Künstler“

R. S.: Natürlich war er christlich im Sinne von Barmherzigkeit, Empathie, Mitfühlen, dem Spenden von Wärmeimpulsen. Eugen Blume, der künstlerische Leiter des Jubiläumsprojektes Beuys 100 und ehemalige Direktor des Museums Hamburger Bahnhof in Berlin nannte ihn sogar einmal „den letzten christlichen Künstler“. Beuys schuf nicht nur viele interessante Kreuzformen, sondern alle seine Werke neigen sich im Grunde mit Erbarmen auch noch zum „Erbärmlichsten“ hinab, zum Geschundenen, Abgenutzten, Deformierten und Verletzten. Mullbinden, Pflaster, Blutkonserven kommen in vielen Werken als direkte Symbole der Heilung vor. Durch Beuys‘ abgedämpfte Farben schimmert für mich überall Wärme hindurch, vielleicht sogar das, was die Theologin Dorothee Sölle einmal „Gott im Müll“ nannte.

7000 Eichen

H. A.: Zu einem anderen Blickwinkel: Bäume sind für Beuys fundamental wichtig. In Kassel realisiert er die gewaltige Aktion „Stadtverwaldung“ und lässt 7.000 Eichen pflanzen mit jeweiligen Basaltsteinsetzungen. Er verbindet Bäume mit der Seele des Menschen, und er sieht die Seele in Gefahr. Sie sei das Einzige, bei dem es sich lohne, es aufzurichten. Dann sei alles andere sowieso gerettet. Können Sie dieses Kunstwerk näher beleuchten?

R. S.: 7000 Eichen ist eine große Heilungs-Initiation in vielfacher Hinsicht. Sie stellt dem kristallinen, nicht entwicklungsfähigen Basalt das nach oben sprießende Grün der Eiche gegenüber, als das Symbol einer größeren zukünftigen Nachhaltigkeit, das aber auch für ältere mythologische Deutungen offen ist. Für die Kelten, deren geistige Welt Beuys liebte, war die Eiche der „heilige Baum“ der Druiden, der auch noch nach der Christianisierung Irlands, die hier sanfter verlief als auf dem Kontinent, von den Mönchen weiter verehrt wurde. Auch darauf spielt Beuys an, auf ein keltisch-spirituelles Erbe Europas in Irland, das er sogar The Brain of Europe nannte.

Eine weitere Bedeutungsschicht ist der Missbrauch der Eichensymbolik durch die Nazis, die das mit Eichenlaub versehene „Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes“ an Soldaten verliehen, denen ein Heldenstatus zuerkannt wurde. Auch Hitler pflanzte viele Eichen, und dieser Baum wurde zum Symbol der „festverwurzelten deutschen Nation“ zum Beispiel gegenüber dem heimatlosen „jüdischen Wüstenvolk“. Beuys nimmt diese symbolischen Ebenen indirekt in seine Aktion 7000 Eichen mit auf, aber eben nicht als Sympathie für die Nazis, sondern als Versuch einer heilenden Umdeutung. All das wird momentan von Kritikern nicht verstanden, die Beuys eine „braune“ Gesinnung oder „Deutschtümelei“ unterstellen.

(wird fortgesetzt in Teil 2)

 

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Post info

Datum: April 26, 2021
Autor: Hermann Achenbach (Germany)
Foto: Suenner Beuys

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